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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Neuling abermals einschärfte, daß er sich eine ungebührliche „Schaumborte“ verbitte.

Dann holte er die Papierdüte aus der äußeren Brusttasche, stutzte mit der Cigarrenschere den gewohnten Glimmstengel, klopfte ihn bedächtig an der Tischkante ab und steckte die abgekniffene Spitze in die Westentasche.

„Hm, hm –– kommt wirklich keiner!“ sagte er zu sich selber, während er das Streichholz anrieb. Dann ballte er die Serviette zusammen und warf sie abseits auf den Tisch.

„Kellner, bringen Sie mir die „Fliegenden!“

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Der Weihnachtsabend des „ Stammgastes“.


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Die Achillesferse.

Skizze von Emil Roland.

Er hatte nun einmal im Lebenstheater seinen Platz im zweiten Range.

Zuweilen sah er mit stiller Sehnsucht denen zu, die sich dank größerer Energie, vielleicht auch dank einer stolzeren Einbildung auf das theure Ich bei Zeiten besser „abonniert“, ihren Stuhl auf einen dankbareren Boden gesetzt hatten. Neid empfand er dabei nicht, seine Gutmüthigkeit schloß das aus, aber ein dumpfes Gefühl, gemischt aus Hoffnung und Wehmuth, überkam ihn. Sein Dasein war zwar kein unangenehmes; Straßenbettler, verschuldete Kaufleute und hungernde Künstler beneideten ihn zu Dutzenden. Und doch fehlte diesem Leben etwas – das Dasein gab ihm manches Gute, nie das Beste! Es war eben eine Existenz vom zweiten Range, ein Schicksal zweiter Güte!

Die Menschen, die ihn kannten, wußten niemals etwas Böses über ihn zu sagen, und da sich nicht einmal eine lustige Glosse an seinen rothblonden Durchschnittskopf hängen ließ, so erwähnten sie seiner kaum. Plötzlich aber kam eine Zeit, in der jeder von ihm sprach, wo sein Name von Lippe zu Lippe flog und genannt ward im abfälligsten Ton, den „freundliche“ Mitbrüder füreinander haben. Er hatte ein großes Unrecht begangen – eine Braut verlassen, eine ehrbare Familie bloßgestellt, seinen eigenen bürgerlichen Ruf erschüttert. Zwei Monate lief er so Spießruthen in seiner Vaterstadt – dann verließ er sie und siedelte sich anderswo an.

Es ist nicht leicht, „anderswo“ anzufangen, wenn man sich das Dasein in der Heimath selbst verschüttet hat und einen blessierten Ruf mitnimmt, der wie ein Theatergeist immer wieder aus der Versenkung steigt, meist gerade dann, wenn er am nothwendigsten unter derselben hätte bleiben müssen. Die Eisenbahnnetze, die Reisewuth, unter deren Zeichen die Kinder unserer ruhelosen Zeit stehen, lassen keine Achillesferse im Verborgenen. So leicht kommt jemand von dort nach da, fragt, was aus dem Landsmann geworden, zuckt die Achseln, deutet an, wird bestürmt und erzählt – scheinbar ungern, in Wahrheit mit Lust.

So kam auch sein wunder Punkt bald genug zu Tage. Die Mütter warnten ihre Tochter vor ihm, die Männer hielten mit ihrem Vertrauen zurück; die „jeunesse“ streifte ihn mit einem Blicke des Staunens, weil dieser Don Juan sich so gut verstellte, weil er scheinbar so schuldlos einherging und die Belastung seines Gewissens nicht einmal in dem treuherzigen Blicke seiner blauen Augen erkennen ließ.

Ob er das alles merkte? Wer weiß! Still und resigniert ging er seines Weges, einer jener Einsamen, die vielleicht eine Welt in sich tragen, denen aber die Welt der anderen gleichgültig ist, gleichgültig oder beängstigend; nicht gerade ein Unglücklicher, aber doch ein Glückloser, ein Abonnent vom zweiten Range, dessen Schuld allein darin lag, daß er sich ein einziges Mal zum ersten hatte erkühnen wollen.

*  *  *

Achilles Schmitt – er war wirklich auf den Namen Achilles getauft, die Ferse fand sich erst später dazu – brachte das Kunststück fertig, dreißig Jahre in der Welt zu sein und noch keine Kleinigkeit erlebt zu haben, die vom Gewöhnlichen abwich. Er war wohlbestallter Bankbeamter, weder hübsch noch häßlich, ohne jeden hervorstechenden Zug, ohne eine komische Angewohnheit, ein Mensch, den man oft gar nicht gewahrte, wenn man ihn ansah, der aber – von der höheren Moral aus betrachtet – über vielen glänzenden Existenzen stand. Er war ein stiller Wohlthäter der Armen, ein rührender Sohn, der die Schulden seines Vaters in langjähriger Arbeit abbezahlt und es schließlich dank seinem unermüdlichen Fleiß zu einem leidlichen Wohlstand gebracht hatte.

Gereist war er kaum, gelesen hatte er wenig. Nie auch strich der Zufall oder ein besonderes Erlebniß an die lyrische Saite, die in jedem Herzen aufgespannt ist und nur des Griffes wartet, damit sie tönen kann. Nicht einmal der erblühende Lenz hatte Macht über ihn. Pflicht und Arbeit machten ihn blind, aber nicht, weil er blind sein wollte, nur weil er nicht ahnte, wie schön das Sehen ist.

Da trat eine Wendung ein. Als blaue Pappkarte fiel sie ihm in die Hand, zufällig, ohne daß er ihre Wichtigkeit ahnen konnte.

Ein junger Architekt schob ihm besagte Karte beim Mittagessen über den Tisch. „Schmitt,“ sagte er dabei, „ich muß auf fünf Wochen nach Berlin. Nehmen Sie mir doch das Ding da ab! Es ist wirklich bildend und ich brauche bar Geld, damit ich wenigstens ‚vierter‘ fahren kann – fünfter giebt’s ja leider nicht!“

Achilles nahm das „Ding“. Es war eine Abonnementskarte für Vorlesungen im Stadthaus. „Was soll ich damit?“ fragte er. Am liebsten hätte er dem jungen Manne, der ihm mit dem Anstand eines lustigen Königs gegenübersaß, die Summe geschenkt. Er wagte es aber nicht, zog die Börse und zahlte den Betrag in die gesunde, dankbar sich hinstreckende Hand. Dann steckte er die blaue Karte arglos in seine Brieftasche.

Von dort aus fiel sie ihm täglich in die Hand, wenn er – peinlich ordentlich, wie ihn die Natur und sein Beruf gemacht – etwas aufschrieb oder dem braunen Schildkrötleder einen Geldschein entnahm. Halb zerstreut las er dann auch wohl die Daten der Vortragsabende. Zwei davon waren schon vorüber, der dritte stand unmittelbar bevor. Bildungsbedürfniß stak von jeher in seiner Seele, nur daß er nicht die Zeit oder bloß ein Konversationslexikon gehabt hatte, ihm zu genügen. Auch erschien ihm die gedruckte Karte wie eine Verpflichtung – kurzum: als es an dem betreffenden Tage sieben Uhr schlug, saß Achilles Schmitt wirklich auf Stuhl 102 und schaute gespannt durch seine goldene Brille allem Kommenden entgegen.

Diesmal kam die „Bildung“ von einem Recitator. Er konnte ein ganzes Heldengedicht auswendig, und nachdem er auf einem Stuhle langsam Platz genommen hatte, so, daß sämmtliche Zuhörer die Eleganz seiner übertrieben spitzen Stiefeletten und seiner seegrünen Handschuhe bewundern konnten, begann er ohne Umschweife oder Einleitungsworte die schönen Verse über zweihundert lauschende Häupter hinzuschmettern.

Hinter Achilles verfielen zwei Backfische sofort in krampfhafte Lachzustände, zwei unartige Mädchen mit langen Gliedern und langen Zöpfen, die das Leben im allgemeinen komisch fanden und den Recitator insbesondere. Darüber entrüstete sich neben ihm auf dem Stuhl 103 ein ältliches Fräulein, einer jener

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 820. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_820.jpg&oldid=- (Version vom 18.5.2023)