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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Sie fragte nicht: „Was für eine Geschichte?“ und erfuhr somit auch nicht, daß er eine schwere Amputation hatte vollziehen müssen.

„Komm ein wenig zu mir, Therese!"

Sie stand langsam auf und kam herüber, aber sie schmiegte sich nicht wie sonst an ihn. Er zog sie an sich. „So, nun will ich weiter nichts in der Welt.“

Sie antwortete nicht, sie zuckte nur unmerklich die Schultern, so unmerklich, daß er es nicht fühlte, obgleich er sie im Arme hielt. So saßen sie schweigend, und endlich nach langer Zeit sagte sie halblaut. „Es wäre aber doch schön!"

„Was denn?“

„Wenn Du irgend etwas thätest, um irgend etwas –“

„. . . Ordentliches zu werden,“ ergänzte er. „Bist doch ein närrisches Ding! Lassen Dich denn Frieders Lorbeeren nicht ruhen?“

Sie zuckte abermals die Schultern, und nach einer Weile kam es tonlos und schwerfällig von ihren Lippen. „Was geht mich der Frieder an!“


Der Frieder war wirklich in die Mode gekommen. Die Blätter hatten lange Artikel über ihn gebracht, die ausführlich berichteten, daß er nach Berlin befohlen worden und wie es zugegangen sei bei der Audienz. Und dann hatte der Bürgermeister des Städtchens angezeigt, daß Lieutenant Adami zum Besten des Baufonds für Wiederherstellllng der Elisabethkirche in Andersheim einen Vortrag über seine Erlebnisse im deutschen Schutzgebiet Ostafrikas halten werde.

Der Gefeierte selbst veränderte bei alledem keine Miene, er blieb genau so formell und so freundlich wie immer; er rauchte ebenso seelenruhig seine Cigaretten in ununterbrochener Folge, lief mit Frau Therese Schlittschuh und tanzte mit ihr in den Gesellschaften, die man ihm zu Ehren gab. Aner er tanzte mit ihr durchaus nicht häufiger als mit anderen.

Dabei wurde Therese blasser und gereizter denn je, und der Doktor gerieth in ernstliche Sorge; ängstlich besprach er sich mit seiner Mutter über diese seltsame Veränderung.

„Nun, Du bist der richtige Doktor für die Famille,“ erklärte diese gelassen; „ich gebe Dir den Rath, stelle Dir einen Hausarzt an. Als ob’s etwas wäre, wenn eine junge Frau einmal Launen hat! Als ich jung verheirathet war, da habe ich Deinem seligen Vater – meiner Seel’ – einmal den Stiefelknecht am Kopfe vorbei geworfen.“

Er mußte lachen und war ein paar Tage beruhigt, um dann desto besorgter zu werden.

Aber plötzlich schien alles verschwunden, was Theresens Laune getrübt hatte, und diese Umwandlung geschah an dem Tage, an dem Frieder Adami seinen Vortrag im Kasino hielt. Therese kam gegen Abend noch ziemlich mißmuthig in Tante Riekchens Stube, um mit Julia zu dem Vortrag zu gehen, denn die Räthin war zu ihrem Kummer durch Migräne ans Bett gefesselt und Tante Riekchen, in Kissen und Decken eingemummt, war in ihrem Rollstuhl schon zur „goldenen Traube“ gefahren; dort sollten einige Männer sie unter Anleitung des Doktors mitsamt dem Stuhle in den Saal tragen. Seit Jahren war sie nicht mehr aus dem Hause gegangen, aber heute – sie hätte um keinen Preis fehlen mögen bei dem Vortrag ihres Lieblings.

Julia konnte nicht anders, sie mußte mit. Gern wäre sie zu Hause geblieben, aber Tante Riekchen hatte fast geweint, als sie Einwendungen machte, und so zwängte sie sich in ihr bestes Kleid, das ihr allerorten zu knapp geworden war. Sie fühlte sich unbeholfen und unglücklich darin und Therese sagte auch sofort, sie wolle ihr ein Tuch borgen, denn die Taille sitze ja unter jeder Kritik. Die stolze Frau hätte um die Welt nicht mit dem schlecht angezogenen Mädchen in den Saal treten mögen und half nun selbst, Julia ein weißseidenes Tuch mit zarter Goldstickerei in geschmackvollen Falten umzustecken; auf der linken Schulter befestigte sie es mit einer kleinen römischen Mosaikbrosche in Form eines Dolches – es war das einzige Andenken, das Julia von ihrer Mutter besaß und das sie zögernd hervorgesucht hatte.

So kamen sie in den bereits gefüllten Saal des Gasthauses, in dem sämtliche Gaskronen brannten.

Die Honoratioren von Andersheim waren vollständig erschienen Für Therese fand sich ein Platz in der vordersten Reihe belegt; Julia setzte sich zur Seite des Podiums neben den Fahrstuhl des alten Fräulein Trautmann. Sie konnte den ganzen großen Raum bequem übersehen, wagte aber nicht, die Augen zu heben; sie hatte Angst, große Angst, wie wenn sie die volle Verantwortlichkeit für das zu tragen hätte, was ihr Bruder rede und thue; und ihr Vertrauen war gering, sie zweifelte, daß er imstande sei, gut zu sprechen.

Schon beim Hereinkommen hatte sie flüchtig gegenüber an der Wand neben einigen anderen Herren Fritz bemerkt, aufmerksam gemacht durch Theresens ärgerlichen Ausruf: „Bitte, sieh nur, wie mein Mann ausschaut. Er hat sich nicht mal umgezogen!“ Dann hatte Julia nicht mehr hinübergesehen. Endlich wagte sie es und bemerkte, daß seine Augen groß und wie verwundert auf sie gerichtet waren. Der Blick traf sie verwirrend; sie glaubte darin zu lesen, daß sie sich zu auffallend geschmückt habe, und erröthend senkte sie aufs neue den Kopf.

Irgend ein Sonett, er konnte sich nicht besinnen, wo er es gelesen, kam dem Doktor drüben unabweisbar in den Sinn:

„Sie stieg vom Kapitol die Stufen nieder,
Da purpurn schon die Sonne Roms versank.
Nie sah mein Auge, seit es Schönheit trank,
So stolzes Haupt, so königliche Glieder.
Als trüg’ ihr Reiz nach keines Menschen Dank,
Hielt sie gesenkt die breiten Augenlider.“

Und er wandte sich zu dem alten „Onkel Doktor“, dem Vormund des Mädchens, und sagte ehrlich verwundert zu ihm:

„Sehen Sie nur, was aus dem kleinen schwarzbraunen Püppchen für ein stolzer Schmetterling geworden ist und wie gut das goldgestickte Tuch sie kleidet!“

Und dann sandte er die Blicke zu seiner jungen blonden Frau hinüber, und ein Zug von Rührung ging über sein Gesicht. Das Reizendste, Süßeste, Beste in diesem ganzen Saale gehörte ja doch ihm! Er liebte sie, liebte sie jetzt, wo sie blaß, gereizt, nervös war, vielleicht noch zärtlicher als sonst. Er bemühte sich, einen Blick, einen Gruß von ihr zu erhaschen – vergebens; sie sah nicht herüber.

Und nun erschien der Redner. Seine Verbeugung war tadellos, seine äußere Erscheinung nicht minder. Der Frack saß ganz vorzüglich, und die leichte Blässe seines Gesichts machte sich sehr interessant.

„Wenn man,“ begann er, „etwas erzählen will, so soll man es vollständig thun! Nun ist mir seit jener Stunde, da ich wieder deutschen Boden betrat, keine Frage häufiger gestellt worden als die: ‚Wie kamen Sie auf den Gedanken, nach Afrika zu gehen?‘ Und ich vermuthe, daß auch hier in diesem Saale mancher zunächst den Grund kennenlernen möchte, der mich hinübertrieb in den Dunklen Erdtheil. Ich will ehrlich sein – ich habe mich immer für Afrika interessiert, habe mit Begeisterung unsere Fortschritte dort verfolgt. Nichts gleicht der Bewunderung, die ich unseren kühnen Pionieren zollte, welche Gefahren, Mühen und Entbehrungen nicht scheuten und nicht scheuen, jenes Land zu erforschen. Natürlich ging aber dem Entschluß, selbst an dem gewaltigen Werke theilzunehmen, ein besonderer Anstoß voraus. Welcher Art dieser war, das zu wissen ist kaum von Werth für zweite und dritte – nehmen wir an, ich wollte ‚alten Gram heilen in neuer Luft‘. Also genug davon! Daß es mir nebenbei nicht an dem ehrlichen festen Willen fehlte, zu nützen, zu lernen und zu lehren, ja Blut und Leben für ein großes Ziel einzusetzen, glaube ich bewiesen zu haben.

Gestatten Sie mir denn, verehrte Herrschaften, in meiner Schilderung mit dem Augenblick zu beginnen, da ich, an der Treppe der Kommandobrücke eines mächtigen Kriegsschiffes stehend, die Thürme und Dächer der guten Stadt Kiel im Winternebel verdämmern sah und das heimathliche Wasser unter dem Buge rauschen hörte, der einem südlichen Meere zustrebte. Eine wahrhaft klägliche Abschiedsstimmung hatte sich meiner bemächtigt, die mir das, was ich in der Heimath besessen, was ich verlor und meiden sollte, zauberischer und unersetzlicher als jemals vormalte, so daß ich mich als den unglücklichsten Menschen des Erdballs betrachtete. Und ganz wahr ist’s nicht, was die Philosophen behaupten, daß Entfernung von dem Orte, wo einem Leid geschehen, die Schmerzen mildere. Mir persönlich hat die Sehnsucht nach der Heimath viel zu schaffen gemacht.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 830. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_830.jpg&oldid=- (Version vom 16.8.2022)