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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Das Pdeidchen im Munde, de Hände in den Taschen des Jacketts und die Mütze gewohnheitsmäßig zurückgeschoben, schlenderte Herbert durch Wiese und Busch auf die Waldhöhe zu, um sich dort oben, wie er es liebte, ins Grün zu strecken. Irgend welche Befehle an Frettwurst wurden nicht ertheilt; der wußte ohnedies, daß er im Boote zu warten hatte, bis sein Herr zurückkam.

Am Rande eines Getreidefeldes schritt Herbert aufwärts. Er dachte an Frettwursts scharfsinnige Beobachtung und mußte lachen. Wer den Burschen für dumm hielt, irrte sich doch gewaltig!

Er pflückte eine Kornblume und steckte sie ins Knopfloch. Wie oft hatte er sich unter der Tropensonne nach der schlichten Schönheit der Heimath, nach ihren Wäldern, nach dem wogenden Roggen und dieser blauen Blume gesehnt. Jetzt besaß er dies alles, es ergötzte ihn – und dennoch war er nicht zufrieden!

Das Pfeifchen war ausgeraucht. Herbert steckte es in die Brusttasche; dann raufte er einen Roggenhalm aus und begann im Weiterschreiten die nahezu reifen Körner mechanisch zu verzehren. Plötzlich stutzte er.

Dort auf der Bank unter der weitverzweigten prächtigen Buche, die vor ihm an der Ecke des Waldes stand, bemerkte er eine weibliche Gestalt, offenbar eine Schlafende, denn sein Nahen rief keinerlei Bewegung bei derselben hervor, was seiner Erfahrung nach bei dem Verhältniß, welches zwischen jungen Damen und Uniform nun einmal besteht, sonst gänzlich unmöglich gewesen wäre.

Und in der That, sein Scharfblick hatte ihn nicht getäuscht. Was sich ihm bot, war ein so rührendes und entzückendes Bild, daß er jedes dürre Zweiglein, jeden Stein auf dem Pfade vermied, um den Zauber nicht zu zerstören; mehr einem Uebelthäter als Frettwursts väterlichem Berather ähnlich, schlich er immer näher. Nun stand er lächelnd, thatendurstig den Schnurrbart zwirbelnd, vor der Schlummernden, ein wenig seitwärts von der Bank, in die sich die Unbekannte mit zierlich gekreuzten Füßchen und in den Schoß gelegten Händen zurückgelehnt hatte. Neben ihr lag ein Kornblumenstrauß, am Boden ein offenes auf die innere Seite gestürztes Buch.

Ein junges schlankes Mädchen war’s, mit feingescheiteltem Haar, das um die Stirn sich in anmuthigen Löckchen ringelte, mit einem zierlichen Näschen und langen Wimpern; die von Sonne und Seeluft etwas gebräunten Wangen waren von Gesundheit und Schlaf wie Pfirsiche geröthet. Was auf Herbert aber die unwiderstehlichste Anziehungskraft ausübte, das war der reizende leicht geöffnete Mund, ein Mund frisch wie Kirschen nach einem Gewitterregen!

So schlummerte die Ahnungslose im Rahmen der tiefhängenden laubigen Buchenäste, der dunkelnden Tiefe des Waldes. Herbert schien sie ein liebliches Geheimniß zu sein, das ihm eine wohlgesinnte Fee plötzlich entschleiert hatte, ein Dornröschen, das auf den Prinzen wartete, der es genau so wecken mußte, wie es im Märchen geschah. Er schaute um sich. Kein Mensch war zu erblicken. Durchs Gezweig hüpfte – dem Himmel sei Dank, geräuschlos – ein Fink, der jedenfalls mit dazu gehörte. Still lag der Spiegel des Hafens da, auf dem die Flaggen der ankernden Kriegsschiffe mit Sonnenuntergang verschwunden waren; nur vom Strande herauf tönte – dem Himmel sei Dank, auch pianissimo – die berühmte Melodie vom „Lieben Augustin“, durch welche Frettwurst sich die weltschmerzliche Philosophie seines Herrn fortpfiff.

Herberts Herz klopfte. Vorsichtig hob er das Buch auf. Es war die Frithjofssage. Vorn stand in durchaus wohlgezogener Schrift: „Hilde Jaspersen“.

Hilde! Hieß dieses kleine Strand- und Waldwunder selbst so, oder trug diesen Namen nur irgend eine alte Tante, welche der Nichte zur Hebung von deren Bildung die Dichtung überantwortet hatte? Pah! Wozu brauchte ein solches Geschöpf überhaupt Bildung! Aber nein, das war nicht möglich – „Hilde“ klang allerliebst, zweifellos hatte er die Trägerin des Namens selbst vor sich! Gegen den Zunamen „Jaspersen“ hatte er nichts einzuwenden, obschon dies das erste Waldmärchen sein mochte, das den schmucklosen Titel „Fräulein Jaspersen“ führte.

Leise legte Herbert das Buch wieder so hin, wie er es gefunden hatte, und schaute dann das Mädchen von neuem an. Lieber Gott, welchen dämonischen Einfluß so ein Paar Lippen mit tadellos weißen Zähnen dahinter ausüben konnte!

Er schlich sich seitwärts näher und näher, bis er hart hinter dem Mädchen stand. Nun war er ihr so bedenklich nahe, daß er ihren leisen Athem hörte. Ihr Köpfchen lag ein wenig über die Lehne zurück. Wie von magnetischer Gewalt gezogen, beugte er sich vor, erst nur ein klein wenig, dann tiefer und tiefer. Und jetzt ein rascher Entschluß – einen Augenblick lang, einen Augenblick, flüchtig wie ein Gedanke, aber süß wie das Paradies, lagen seine Lippen auf den ihrigen! In der nächsten Sekunde fuhr das Mädchen empor, er ebenso blitzschnell zurück; mit weit aufgerissenen Augen sah sie ihn entsetzt an, ein Ruf des Schreckens – und wie ein geängstetes Wild eilte sie mit fluchtigen Füßen dem Kornfeld zu in dem sie verschwand. –

Herbert bedurfte geraumer Zeit, um zu bemerken, daß er mit herunterhängenden Armen und vermuthlich mit einer von geistiger Ueberlegenheit freien Miene noch immer in die Richtung blickte, in welcher sich das Waldwunder unter Zurücklassung seiner Kornblumen und seiner Frithjofssage so überraschend schnell rückwärts konzentriert hatte.

Was hatte er angerichtet! War das ritterlich, ja war das eine That, die vor dem Richterstuhl der Moral je gesühnt werden konnte, den Schlaf einer jungen Dame so frevelhaft zu stören? Hatte er nicht ihre Ehre gekränkt, ihre innere Ruhe ernstlich erschüttert? Und wenn nun Fräulein Hilde Jaspersen zu der vermuthlich auch in der Nähe existierenden Mama Jaspersen ging und weinend klagte: „Mama, ein frecher Mensch, ein Offizier hat mich im Walde geküßt, als ich ahnungslos schlief“, wie sollte er sich dann gegen die gekränkte Familie Jaspersen vertheidigen? Aber warum hatte das kleine Geschöpf auch so hinreißend lieblich ausgesehen! Was konnte er, der noch fünf Minuten vorher auf der Höhe menschlicher Moral gestanden hatte, für diesen verführerischen Reiz!

Er preßte halb in Demuth, halb im Trotz einen Kuß auf die Schriftzüge „Hilde Jaspersen“, schrieb das Wort „Verzeihung!“ auf ein ausgerissenes Blatt seines Notizbuches und hatte eben das Blatt nebst der Kornblume aus seinem Knopfloch in das Buch gelegt, als seine Hand zufällig über seine Kravatte streifte. Das fehlte gerade noch! Seine Kravattennadel, ein gekrönter, mit den Buchstaben H. G. geschmückter goldner Anker, das Geschenk eines alten Kameraden, war verschwunden! Bestimmt hatte er sie im Boote noch gehabt. Es war nicht anders möglich, als daß sie vorhin bei dem heftigen Zurückprallen fortgeschleudert worden war. Er begann zu suchen – bei der immer tiefer werdenden Dämmerung allerdings ein ziemlich hoffnungsloses Bemühen. Endlich gab er das fruchtlose Unterfangen auf und machte sich auf den Rückweg. „Kommen wir also morgen wieder,“ murmelte er, „denn wenn das verrätherische Ding hier entdeckt würde, das wäre ja recht niedlich!“

Unten pfiff Frettwurst noch mit hellem schönen Ton sein: „Ach du lieber Augustin, alles ist hin!“

„Du ahnst gar nicht, gute Seele, wie recht du wieder hast,“ dachte Herbert. „Aber selbst wenn wir weder Mädchen noch Nadel wiederfänden – schön war’s doch!“

*      *      *

Am nächsten Nachmittag hieß es an Bord des Wachtschiffes „Preußen“: „Frettwurst, die ‚Bachstelze‘ auftakeln! Da die Nadel nicht im Kutter war, müssen wir sie auf der Strandhöhe suchen.“

„Es is aber nich für ’n Hosenknopf Wind, Herr Lieutenant.“

„Kratzen Sie nur tüchtig am Klüverbaum, dann wird er schon kommen. Fahren müssen wir auf jeden Fall.“

Frettwurst kratzte gehorsam, denn er hielt felsenfest an dem alten Seemannsaberglauben, und richtig, es half! Nach einer halben Stunde tänzelte die „Bachstelze“ vor dem Winde auf die weiße Höhe zu, hinter der das Stranddorf sich barg.

Herbert hatte heute Civilkleider angelegt; daß dies seines schlechten Gewissens halber geschah, würde er freilich nicht zugegeben haben. Nach langem Schweigen fragte er unvermittelt: „Was würden Sie thun, Frettwurst, wenn Sie einmal im Walde ein hübsches Bauernmädchen fänden, das auf einer Bank sitzt und eingeschlafen ist?“

Der Bursche grinste vergnügt. „Das kümmt gor nich vor, Herr Lieutenant.“

„Aber wenn es nun doch vorkäme.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_015.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2020)