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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

kunstvollen Miniaturen verziert. Auf einer Seite dieser Handschrift nun befand sich ein Bild, das den alten Gelehrten unter einer Säulenhalle auf goldener Kathedra im weißen Talare sitzend darstellte. Die „Heuresis“, die wissenschaftliche Forschung, überreichte ihm mit der einen Hand eine Mandragorapflanze, während sie mit der anderen Hand an einem Stricke den toten Hund hielt, der beim Ausziehen der Wurzel sein Leben verloren. Leider ist gerade dieses Blatt des sogenannten Codex Byzantinus eines der werthvollsten Schätze der Wiener Hofbibliothek, schon vor Jahren von einem verwegenen Liebhaber ausgerissen und durch eine flüchtige Kopie ersetzt worden; an Stelle der alten Miniatur sehen wir heute nur die roh gezeichnete Nachbildung jener Mandragorawurzel.

Zeichnung einer Mandragorapflanze in dem Codex Byzantinus der Wiener Hofbibliothek.

Im übrigen konnte sich der alte Dioscorides auch für jene ältere bildliche Darstellung schönstens bedanken. Er wußte nichts von dem Wunderkram, mit dem man die Mandragora umgab.

Worin aber lag nun das Geheimnißvolle, Uebernatürliche, das den sonderbaren Wurzelschößling zum Mittelpunkt einer abergläubischen Verehrung machte?

Mit einem Worte: man gab dem oft seltsam menschenähnlich gestalteten Wurzelstock auch menschliche Natur! Das ging so weit, daß man zwischen männlichen und weiblichen Mandragoren unterschied. Nicht etwa im botanischen Sinne, denn die Mandragora ist, wie die Mehrzahl der Blüthenpflanzen, eine Zwitterblüthe – sondern man faßte die stärkeren Exemplare der Gattung als männliche, die schwächeren als weibliche auf. So geschah es schon in einer noch etwas älteren Dioscorides-Handschrift, dem sogenannten Codex Neapolitanus, der sich ebenfalls auf der Wiener Hofbibliothek befindet. Hier sind zwei dieser Pflanzen mit Wurzeln, Blättern und Früchten abgebildet, von denen durch die griechische Unterschrift ausdrücklich die größere als männliche, die kleinere als weibliche Mandragora bezeichnet wird, während gleichzeitig die Umrisse der Wurzeln eine entsprechend unterschiedene Gestalt zeigen.

Abbildungen von Mandragorapflanzen in dem Codex Neapolitanus der Wiener Hofbibliothek.

Wohl zur Zeit der Völkerwanderung dringt nun die Sage von der Zauberwurzel und mit ihr sie selbst aus ihrer Mittelmeerheimat in die germanischen Länder ein. Man wandte sie hier zu denselben Arzneizwecken an wie jenseit der Alpen, man erzählte sich aber auch mit gläubigem Staunen von ihrer Wunderkraft.

„Alraun“ nannte sie der Deutsche, und wenn wir den Namen zu erklären versuchen, so gerathen wir auf die Bedeutung der „Alles raunenden“, der „Allwissenden“. Von einer sagenhaften germanischen Prophetin „Alruna“ wußte schon Tacitus zu berichten. Möglich aber auch, daß die Alraune sprachlich wie sachlich in Verwandtschaft stehen mit den „Alben“ oder „Elfen“, den Zwergen, Wichtelmännchen, Heinzelmännchen oder Heckemännchen des Volksglaubens. Wie diese, so entstammten auch die zauberkräftigen Wurzeln dem geheimnißvollen Reiche der Tiefe; mit ihren grobhaarigen Fasern, ihren Runzeln und ihrer oft recht seltsam gespaltenen Form glichen sie auch äußerlich jenen langbärtigen, greisenhaften Männchen, mit denen die geschäftige Phantasie des Volkes den Schoß der Erde bevölkerte.

Wie dem auch sei – der Besitz der Zauberwurzel galt als ein unschätzbares Gut. Sie brachte Glück und Reichthum dem, der sie im Hause hatte oder bei sich trug, wehrte Krankheit und alles Ueble von seiner Schwelle. Dafür war sie aber auch sehr selten! Angeblich wuchs sie nur unter dem Galgen – daher auch ihr Name „Galgenmännlein“ – und wenn man sie auszog, so schrie sie wie ein Kind. Wer sie gewinnen wollte, der mußte sich deshalb die Ohren verstopfen. Man trieb einen reinen Fetischdienst mit ihr, pflegte, kleidete und hütete sie wie ein geliebtes menschliches Wesen. Denn ihre Vernachlässigung brachte Unglück!

Kaiser Rudolph II. (1576 bis 1612), der bekanntlich eine lebhafte Neigung für alchimistische und astrologische Studien hatte, besaß zwei Alraune, die noch heute auf der kaiserlichen Hofbibliothek in Wien zu sehen sind. Sie haben rothseidene Hemdchen an und sollen ehemals in Särgen gelegen haben. Ihre Namen sind Marion und Thrudacias. Kopf, Rumpf und zerfaserte Glieder sind plump unterschieden ebenso Augen, ein häßlicher breiter Mund und eine plattgedrückte Nase im fratzenhaften Gesicht. Allmonatlich, im zunehmenden Monde, wurden die rauhhaarigen, zusammengeschrumpften Dinger gebadet. War dieses Bad einmal vergessen worden, so sollten sie wimmern und schreien wie kleine Kinder, bis das Versäumte nachgeholt war.

Aus Frankreich und Italien bezog man die meisten Alraune; für die besten galten die von Montpellier in Südfrankreich und die vom Apennin. Eine echte Mandragorawurzel war natürlich schon dort ein recht theures Vergnügen. Vollends aber nördlich der Alpen, wo sie im Freien nicht mehr fortkam. Indessen, die Industrieritter des Aberglaubens in Deutschland wußten sich zu helfen! Kräutermänner, Landstreicher, fahrende Schüler und dergleichen Leute schnitten aus Zaunrüben und Kalmuswurzeln menschenähnliche Figuren, steckten keimende Gerstenkörner hinein, damit rauhe Borsten zum Vorschein kamen, und brachten diese Schwindeleien für gutes Geld an den Mann.

Es gab aber auch stets vernünftige Leute, welche die Abergläubischen auslachten oder wenigstens ihren Unsinn nicht mitmachten. Der wackere Petrus de Crescentiis, der 1518 in Straßburg ein Werk drucken ließ „Von dem nutz der ding, die in äckeren gebuwt werden“, hat zwar vor den medizinischen Wirkungen der Alraunwurzel allen Respekt und weiß in dieser Beziehung allerlei Rath für ihre Verwendung zu ertheilen. Diejenigen aber, welche die Wurzel zu menschlichen Figuren zuschneiden und damit, besonders bei den Frauen, gute Geschäfte machen, erklärt er kurzweg für Betrüger.

Während des Dreißigjährigen Krieges und in den trostlosen Jahren, die ihm folgten, blühte der Weizen für die Alraunhändler am üppigsten. Das verarmte Volk suchte sich eben durch jedes Mittel wieder aus dem Elend emporzubringen, und da es während der langen Zeit der Noth und Verwilderung in seiner geistigen Bildung tief gesunken war, so griff es urtheilslos nach allem, was ihm Hilfe versprach. Noch im Jahre 1675 erhandelte ein Leipziger Bürger vom Scharfrichter ein Alraunmännchen für 64 Thaler! Wenn der gute Mann heute noch lebte, so würde

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_030.jpg&oldid=- (Version vom 10.3.2024)