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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


öffnet die verschlossene Tiefe. Wer sie gefunden hat und damit dreimal gegen den Fels schlägt:

„Der hebt aus Nacht und Dunkel
Den goldnen Wunderschrein,
Und all das Schatzgefunkel
Und all das Gold ist sein!“

Seltsam, diese Worte klangen immer wieder in den Ohren des Mannes, der da am Rande der Bergwiese stand. Es war die letzte Strophe des alten Volksliedes, das auch er in seinen Kinderjahren gekannt, aber längst vergessen gehabt. Für ihn gab es keine versunkenen Schätze mehr, ihm war die Tiefe leer und tot, und doch klang das Lied unaufhörlich in seinem Innern oder vielmehr die Stimme, von der er es zuletzt gehört hatte. Er haßte es in tiefster Seele – das schöne verführerische Bild, dies Mädchen, das den Jugendfreund umgarnt hatte und nun Herrin in Odensberg werden sollte, aber er kam nicht los von dem berückenden Klange dieser Stimme, dem dämonischen Zauber dieser Augen, und keine Arbeit, keine Willenskraft wollte dagegen helfen.

Er schritt über die Bergwiese und blickte prüfend zu dem Albenstein hinauf. Die Schneelasten des Winters und die letzten Frühlingsstürme mochten dem Kreuz da oben wohl tüchtig zugesetzt haben, dennoch schien es fest und sicher zu stehen. Plötzlich aber stutzte Egbert, sein Fuß schien am Boden zu wurzeln, während sein Blick wie gebannt an dem Felsgipfel hing. Dort oben regte sich etwas, er sah die Umrisse einer hellen Gestalt, die sich deutlich abzeichneten – sein scharfes Auge erkannte sie, trotz der Entfernung.

Also war es doch keine bloße Prahlerei, keine flüchtige Laune gewesen: das tollkühne Mädchen hatte wirklich das Wagniß unternommen und allein unternommen, wie es schien! Egberts Stirn zog sich finster zusammen, doch an Umkehr war nicht zu denken, auch er war jedenfalls schon gesehen worden. So setzte er denn den Bergstock ein und begann langsam emporzusteigen.

Der Weg, der von hier aus auf die Klippe führte, forderte allerdings einen schwindelfreien Blick und ein furchtloses Herz. Es war eine Art Jägersteig, der sich dicht an dem jähen Abhang entlang zog und immer den Blick in die Tiefe offen ließ. Bisweilen verschwand er ganz, und dann galt es, über Steine und Geröll emporzuklimmen und sich selbst den Pfad zu suchen, bis der gebahnte Steig nach einer Weile wieder sichtbar wurde.

Der junge Ingenieur hatte die kühle Ruhe, mit der er sonst den Aufstieg machte, verloren, oft stockte sein Fuß und er brauchte beträchtlich mehr Zeit als sonst, bis er endlich den Gipfel erreichte. Da stand sie vor ihm, Cäcilie Wildenrod, vom hellen Morgenlicht umflossen, strahlend von Schönheit und Uebermuth.

„Sieh’ da, Herr Runeck; treffen wir uns hier auf dem Albenstein! Sie haben sich Zeit genommen zu Ihrem Klettern – ich war schneller oben!“

„Ich kenne die Gefahr des Weges,“ versetzte Egbert gelassen, „und eben deshalb fordere ich sie nicht heraus.“

„Gefahr? Daran habe ich gar nicht gedacht! Sie meinten, ich würde nicht wagen, den Weg zu gehen, oder nach höchstens fünf Minuten wieder umkehren. Was sagen Sie nun?“

Sie blickte ihn herausfordernd an, jetzt mußte doch endlich von diesen starren Lippen ein Wort der Bewunderung kommen! Allein es kam nur die kühle Gegenfrage:

„Weiß man in Odensberg von Ihrem Ausflug, gnädiges Fräulein?“

„Warum nicht gar!“ rief die junge Dame lachend. „Dann hätte man mir Hausarrest gegeben oder mich wenigstens auf Schritt und Tritt bewacht. Ich habe mich heute in der Frühe, als alles noch schlief, heimlich davongeschlichen, habe anspannen lassen und bin nach dem Kronswald gefahren. Von dort ist der Weg kaum zu verfehlen, und Sie sehen, ich habe ihn gefunden.“

„Allein? Das war mehr als unvorsichtig! Wenn Sie einen Fehltritt thaten, wenn Sie stürzten, war keine Hilfe in der Nähe und dann –“

„Mein Gott, fangen Sie nicht an, zu predigen,“ unterbrach sie ihn ungeduldig. „Ich werde schon Strafpredigten genug hören, wenn ich nach Odensberg zurückkehre.“

„Ich habe weder die Absicht noch das Recht, Ihnen zu predigen, gnädiges Fräulein, das steht höchstens Erich zu.“

„Und gerade ihm werde ich es am wenigsten zugestehen.“

„Ihrem künftigen Gatten?“

„Eben deshalb. Ich beabsichtige durchaus, die Herrschaft zu behalten.“

„Das dürfte in diesem Falle nicht schwer sein, Erich ist eine weiche nachgiebige Natur. Er wird niemals versuchen, sich zu wehren.“

„Wehren?“ wiederholte Cäcilie, gereizt und belustigt zugleich. „Sie scheinen unsere künftige Ehe als eine Art Kriegszustand aufzufassen – ein schmeichelhaftes Kompliment für mich!“

„Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich jetzt das Kreuz untersuche,“ unterbrach Egbert die Baroneß. „Ich bin eigens deshalb heraufgekommen. Es gilt, der Möglichkeit eines Unfalls vorzubeugen, dessen Folgen verhängnißvoll werden könnten.“

Cäcilie biß sich auf die Lippen bei dieser Abweisung des vertraulichen Tones, den anzuschlagen sie für gut befunden, und ein zorniger Blick traf den Mann, der es wagte, ihr dergleichen zu bieten.

(Fortsetzung folgt.)




Weltverbesserer.
Von Dr. J. O. Holsch.
II.
Urchristliche und mittelalterliche Staatsideale und Weltverbesserungsgedanken.

Platos Staatsidee war, wie wir sahen, lediglich eine planmäßige, rücksichtslos durchgedachte Einführung der Ideen der Gerechtigkeit und Weisheit in das wirkliche Leben. Die persönlichen Vermittler dabei, die Philosophen, sollten besondere Geistesträger, sozusagen reine Geistesmenschen sein.

Woher aber schöpften diese berufsmäßigen Weisheitsträger diesen ihren überragenden Geist? Wurde er nicht mit ihnen geboren? Und wenn – welch höhere Macht stand jenseit dieses Ursprungs?

Für jeden, der sich bewußt bleibt, daß zwischen dem Griechen Plato und zwischen dem Israeliten Jesus von Nazareth drei bis vier Jahrhunderte mit kreuz- und querlaufenden, äußeren wie inneren Zwischenentwicklungen liegen, tritt unmittelbar zu Tage, daß die Beziehungen zwischen Plato, Nach- und Neuplatonismus und zwischen dem Urchristenthum durchaus dem Gesetz einer ununterbrochenen Geistesentwicklung entsprechen. In der griechischen Philosophie, besonders aber bei Plato, erscheint das Geistige, erscheinen die „Ideen“ noch nicht völlig losgerissen von der Wirklichkeit des diesseitigen Seins und Lebens; es ist noch eine gewisse Verschwommenheit in dem Verhältnisse beider.

Das wurde mit einem Schlage anders, als das Urchristenthum in die Welt trat. Mit ihm fallen Diesseits und Jenseits ausgesprochen, ja man darf sagen, schroff auseinander; ein Zeitalter beginnt, in welchem der schärfste Gegensatz zwischen dem irdisch-materiellen und zwischen dem himmlisch-geistigen Leben das Denken und Fühlen der Menschen durchzieht. Man könnte dieses Zeitalter das der „Transcendenz“ nennen, d. h. dasjenige, in welchem die Vorstellungen vom Jenseits eine Vorherrschaft über das Denken und Empfinden der Menschheit übten.

Es ist von entscheidender Bedeutung, diese Grundrichtung der Geister in ihrer vollen Schärfe und Klarheit bloßzulegen, weil sie allein eine Erklärung zu bieten vermag für die merkwürdigen Blüthen gesellschaftlichen Denkens, welche den zweitausendjährigen Zeitraum zwischen einem Plato und einem – Thomas Morus ausfüllen.

Paulus, aus Kleinasien, wo griechische Weltweisheit mit orientalischer Mystik sich kreuzte, von Geburt Jude, von Erziehung Grieche, also in Person der lebendigste Zeuge für das Zusammenfließen beider Kulturströme, fand zu Athen auf demselben Marktplatze über den ein Sokrates gewandelt war, nur noch die letzten, sophistisch verschulten Ueberbleibsel einstiger griechischer Geisteskraft vor. Dort, wie später im Herzen der alten Welt, in Rom, verkündigte er Jesum: aber nicht den „Jesus im Fleisch“, d, h. wie er auf Erden wandelte, sondern den „Christus im heiligen Geiste“, wie er ihn in seinen Briefen nennt, d. h. den Gottessohn, der nach paulinischer Lehre jenseitig, rein geistig, schon vor seinem Kommen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_122.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)