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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

„Sie sehen für ein Landkind recht blaß aus, liebes Fräulein; sind Sie kürzlich krank gewesen?“

Die Wirkung dieser Frage beseitigte freilich für den Augenblick jede Spur von Blässe im Gesicht des Mädchens. In ihre Verlegenheit mischte sich ein klein wenig Zorn über die rückhaltlose Art der Dame. Indessen, bloße Neugier oder Hochmuth lagen hier nicht vor, das hatte sie schon gemerkt, und so antwortete sie bescheiden: „Allerdings bin ich krank gewesen und noch immer ein wenig angegriffen. – Aber bitte, entschuldigen Sie mich einen Augenblick!“ Sie eilte fort, um eine kleine Leiter zu holen, und begann dann selbst die besten Aepfel von den erreichbaren Zweigen zu pflücken.

„Hilf ihr!“ gebot die Prinzessin ihrer Tochter, und diese gehorchte mit fröhlichem Lachen.

Mit ihrem Sonnenschirm spielend, beobachtete die Fürstin das Thun der jungen Mädchen. Ihre noch unentwickelte Tochter, im eleganten hellen Gewand, stand mit dem Körbchen unter dem Baum; Hilde, im dunklen Hauskleid, reichte die Früchte von oben herunter. Sie verlor durchaus nicht neben dem freundlichen Königskind, sondern gewährte, wenn sie sich anmuthig zwischen den Blättern zurückbog, während verlorene Sonnenstrahlen ihr über Antlitz und Gestalt huschten, ein ungemein anziehendes Bild.

Das Wohlgefallen, das die Prinzessin an dem Lehrerstöchterlein fand, mußte ein großes sein, denn auch als die Aepfel gepflückt und gekostet waren, unterhielt sie sich noch lange und eingehend mit dem jungen Mädchen. Sie wich sogar nicht eher, als bis sie auch noch Herrn und Frau Jaspersen zu Gesicht bekam, denen sie sich als eine zum Hofe gehörige Gräfin So und So vorstellte.

Der Lehrer machte eine förmlich bestürzte Miene, als die Gräfin ihm beim Scheiden ein Goldstück überreichte.

„Sie brauchen nicht zu erschrecken, Herr Jaspersen! Trotzdem Ihre Aepfel Goldes werth sind, sollen Sie es gar nicht haben. Aber für arme Kinder Ihrer Schule werden Sie es wohl verwenden können. Es wird auch hier deren geben!“

„Nicht viele, gottlob, aber einige doch, und für diese will ich es mit wärmstem Dank behalten.“

„Recht so! Und nun nochmals Dank für die köstliche Bewirthung! Es hat uns sehr gefreut, Sie kennenzulernen. Ich wünsche, daß Ihre Tochter recht bald ihre rothen Backen wieder bekomme. Wenn man Krankheit oder Kummer gehabt hat, kehrt das Glück oft über Nacht zurück, man weiß nicht wie. Also adieu! Ich werde Ihre Gastfreundlichkeit nicht vergessen, Fräulein Jaspersen, und wenn der Tag erscheint, an dem ich Ihnen dafür erkenntlich sein darf, so werden Sie wissen, daß Sie das lediglich Ihren eigenen Vorzügen zu verdanken haben!“

Als die vornehmen Gäste sich mit herzlichem Händedruck verabschiedet hatten, blieb die Familie Jaspersen in gehobener, aber ein wenig sonderbarer Stimmung zurück. Was sollte denn dieses geheimnißvolle Schlußwort, diese im Verhältniß zu dem geringfügigen Anlaß fast überwichtige Zukunftsverheißung besagen?

Im Dorfe hatte die Hofequipage natürlich Aufsehen erregt. Die „Hofdamen“ waren zu Jaspersens gegangen - das mußte unbedingt mit Hildes leichtsinnigem Seeabenteuer in Verbindung stehen, und bald lief die geheimnißvolle, gierig geglaubte Kunde um, der Marinelieutenant, der früher so oft sich gezeigt habe, sei ein heimlicher Graf. Er habe mit Schulmeisters Hilde, der man so etwas auch nicht zugetraut hätte, heimlich ins Ausland fliehen wollen, sei jedoch von einem Kriegsschiff eingefangen worden. Da er aber dem Mädchen die Ehe versprochen habe, so sei jetzt die Gräfin, seine Mutter, hergereist und habe Jaspersens viel Geld gegeben, damit sie zufrieden seien und keine Ansprüche mehr an den jungen Grafen stellten.

*      *      *

An Bord der „Preußen“ zurückkommandiert, erwartete Herbert in fieberhafter Spannung von seiner Gönnerin eine Nachricht aus der Hauptstadt, wohin sie inzwischen zurückgekehrt war. Tadellos versah er seinen Dienst, doch war er froh, wenn er wieder allein seinen Gedanken nachhängen konnte. Die Kameraden benahmen sich rücksichtsvoll gegen ihn. Sie glaubten, er habe seine übereilte Verlobung bereits wieder gelöst, und vermieden jede Anspielung auf das Geschehene. Trotzdem fühlte sich Herbert nicht wohl in ihrer Gesellschaft, das Herz wurde ihm erst leichter, wenn er mit Frettwurst die „Bachstelze“ tummeln konnte. Je stärker es wehte, desto lieber war es ihm. Der Kampf mit der See befriedigte und stählte ihn, ja gab ihm neue Hoffnung.

So oft bei diesen Fahrten der Steg an der Strandhöhe in Sicht kam, hoffte Frettwurst, die „Bachstelze“ werde sich ihm zuwenden – immer vergebens, und rathlos zerbrach er sich den Kopf darüber, warum sich sein Herr gar nicht mehr um das Fräulein kümmere. Das arme kleine „Katteker“ weinte sich jetzt wohl die Augen roth nach dem Schatz, der nicht mehr kam! Was mochte es da gegeben haben? Das kleine „Katteker“ war doch gewiß nicht schlecht und noch weniger war sein guter Herr treulos gewesen, das wußte er bestimmt!

Und eines Tages erhielt diese biedere Zuversicht eine glänzende Bestätigung, unmittelbar nachdem an Bord der „Preußen“ für den Lieutenant Gebhardt ein Telegramm folgenden Inhalts abgegeben worden war:

„Alles in Ordnung! Kommen Sie ruhig um den Konsens ein! Herzlichen Glückwunsch dem Brautpaar von meinem Mann und mir. Prinzeß August“. 
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„Frettwurst, Du schast mal gau[1] to Gebhardt kamen!“

In dieser wenig respektvollen Weise rief die Ordonnanz der Offiziersmesse, der „Läufer“, den nachdenklichen Frettwurst an, der im Zwischendeck damit beschäftigt war, in einem Strumpfe seines Lieutenants ein Loch zuzustopfen, das die Waschfrau übersehen hatte. Der Gerufene warf augenblicklich Nadel und Strumpf in seinen Flickkasten und eilte nach der Messe, wo ihm sein Herr strahlenden Auges, mit einem Papier in der Hand, entgegentrat. Frettwurst wußte im Nu, was die Glocke geschlagen hatte. Es ging wieder zu ihr!

„Frettwurst, fix die erste Garnitur heraus! Aber Ueberrock! Das neue Portepee, frische Wäsche und so weiter!“

„Nanu,“ dachte Frettwurst, irre werdend, „so fien? Denn geiht dat doch wull ni na’t Dörp.“

Doch er fühlte sich wieder beruhigt, als Herbert fortfuhr: „Und dann ziehen Sie ebenfalls schleunigst gute Uniform an, geben an Land diese Depesche an die Prinzeß August auf und machen die ‚Bachstelze‘ klar! Ich bin in einer Stunde an der Brücke!“

„Zu Befehl, Herr Leutenant!“

Während der Bursche flink die Sachen hervorholte, murmelte er: „Awerst so fien, so fien? Dat het wat to bedüden![2] Dat sücht meist ut[3], as wenn he friegen gahn[4] wull? Hurra, lütt Katteker, wo warst du dann lachen!“ – –

Mit zwei freudig erregten Menschen an Bord, das hohe feine Linnen geschwellt vom kräftigen Herbstwind, durchschnitt die „Bachstelze“ die blauen Fluthen des Hafens. Uebermüthig tänzelnd, mit unaufhaltsamer Eile jagte sie dahin, als wüßte auch sie, zu wem es gehe. Mochten die weißen Wolken oben in die Ferne ziehen, wohin immer es sie trieb – ihr Ziel lag am grünen traulichen Ufer der Heimath!

Als sich die „Bachstelze“ eben in schlankem Bogen der Landungsstelle zuwandte, kehrte das Panzergeschwader von einer Uebung aus See zurück. In langgestreckter Kiellinie dampften die mächtigen schwarzen Ungeheuer hintereinander her – eine drohende majestätische Prozession. Die selbstbewußte Ruhe, die sie umgab, wurde dann und wann durch die Signale unterbrochen, welche die Dampfsirenen der Schiffe einander zuheulten.

Herbert nickte den stolzen Schiffen fröhlich zu. „Ich bleibe bei euch für immer, ein glücklicher Mann!“ Dann schaute er wieder selig gerade aus. Dort über dem Wasser kam der in rothbraunen goldigen Farben leuchtende Wald näher und näher, dort winkte der Steg! Was er in Sommertagen erst sehnsuchtsvoll geträumt, was ihm dann in halb frevelhaftem Spiele unverdient in den Schoß gefallen, was in Noth und Gefahr ganz sein eigen geworden war, um dann wieder fast unwiederbringlich zu entschwinden – jetzt war es neu emporgetaucht, gereifter, leuchtender in der klaren Herbstsonne: die blaue Blume des Glücks! –

Die Lehrersfamilie saß still und ernst im Wohnzimmer beisammen. Der köstlichen Luft wegen hatte man die Fenster geöffnet, um welche die Trauben zwischen den verfärbten Weinblättern hingen. Die Hände in den Schoß gelegt, blickte Hilde zu den Wolken empor, und in trüber Sehnsucht zog ihr das Dichterwort durch den Sinn:

„Eilende Wolken, Segler der Lüfte!
Wer mit euch wanderte, mit euch schiffte!“

  1. rasch.
  2. bedeuten.
  3. sieht fast aus.
  4. freien gehen.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_127.jpg&oldid=- (Version vom 9.6.2020)