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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

innigste verbunden war und mit ihnen an Kenntniß des klassischen Alterthums wetteiferte, der aber gleichzeitig in stetem unmittelbaren Verkehr mit den Bedürfnissen des Handels und des gewöhnlichen täglichen Lebens stand und auch in die bewegenden Kräfte der politischen Vorgänge den tiefsten Einblick hatte – dieser Mann mußte nothwendig in seinem Innern in schärfster Weise den tiefen Zwiespalt fühlen, der das damalige äußere und innere Leben Englands zerriß; als geistvoller Schriftsteller, als Philosoph und Schüler Platos, als Kind des Zeitalters der Entdeckungen, als vorsichtiger Politiker kleidete er all seine Kritik, all seine Gedanken, seine Wünsche und Hoffnungen ein in ein Zwiegespräch, in welchem er einen fremden Reisenden das über die englische Nation und über das Ideal eines nationalen Staates überhaupt sagen läßt, was er zu sagen hat, ein Zwiegespräch, bei dem man nicht weiß, ob man das liebenswürdige Erzählertalent oder die satirischen Beziehungen auf die damaligen Zustände des königlicheu Absolutismus oder die Fülle der Gedanken mehr bewundern soll.

Versenken wir uns in den Inhalt dieses Werkes.

In einfachen, harmlosen Worten erzählt zunächst Thomas selbst, wie er als diplomatischer Unterhändler seines Königs nach Brügge in Flandern kommt, um mit Vertretern des späteren Kaisers Karl V. Verhandlungen zu führen. Bei dieser Gelegenheit macht er von dort einen Ausflug nach Antwerpen und wird daselbst durch seinen Freund Peter Giles mit dem portugiesischen Seefahrer Rafael Hythlodäus bekannt, einem der 24 einst von Amerigo Vespucci auf dem neuen Welttheil Zurückgelassenen. Thomas More ladet diesen merkwürdigen Mann zum Essen ein, und bei der Tafel entwickelt sich im vertrauten Kreise dreier Freunde eine lebhafte Unterhaltung. Hundert Fragen stürmen auf den weitgereisten, hochgebildeten Rafael ein, der es verstanden hat, auf seinen Reisen mit bewunderungswürdigem Scharfsinn zu beobachten. Die Fragen entspringen aber nicht oberflächlicher Neugier nach Aeußerlichkeiten, sie richten sich vielmehr vorzugsweise auf die gesellschaftlichen Einrichtungen und Sitten der Völker, welche Rafael Hythlodäus kennengelernt hat. „Zufällig“ stellt sich heraus, daß er früher auch einmal auf der Insel England gewesen ist und daß er dort bei dem Kardinalerzbischof von Canterbury, dem Kanzler von England Jean Morton, dem Gönner des Thomas, einen Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse des damaligen England erhalten hat. In sehr drastischer Weise berichtet der freimüthige Portugiese, wie damals bei der Tafel ein Schwätzer die englische Justiz gerühmt habe, weil sie die Diebe hänge, während derselbe gleichzeitig habe zugeben müssen, daß trotz dieser entsetzlichen Strafe für Eigenthumsvergehen sich die Diebstähle vermehrten. Hythlodäus zwang damals die Anwesenden, auf die wirklichen Ursachen der Zunahme der Diebstähle und des Landstreicherthums, auf die Scheidung der Bevölkerung in Arbeitende, Nützliches Erzeugende und in drohnenartige „Herren“ und „Gefolge“ sowie auf die rücksichtslose Ausbeutung des Bodens durch die lediglich nach Geldgewinn gierigen Wollproduzenten zurückzugehen, wobei er mit unverkennbarem Hohne durchblicken ließ, daß die Tischgesellschaft immer erst dann einer Sache Beifall zollte, wenn der mächtige Kirchenfürst sie durch Wort oder Miene bestätigt hatte. Rücksichtslos werden die Triebfedern der damaligen Fürsten bloßgelegt, und ausdrücklich erklärt Rafael, seine innerste Ueberzeugung sei nach allen Erfahrungen, die er gemacht, die: überall, wo das Eigenthumsrecht herrsche, wo man alles mit Geld messe, werde von Billigkeit und gesellschaftlichem Wohlbefinden nie die Rede sein können; das einzige Mittel, die Güter mit Gleichheit und Billigkeit zu vertheilen und das Glück des menschlichen Geschlechts zu begründen, bestehe in der Aufhebung des Eigenthumsrechts. Solange dieses die Grundlage des gesellschaftlichen Gebäudes bilde, werden der zahlreichsten und schätzenswerthesten Klasse nur Mangel, Kummer und Verzweiflung zutheil werden. More, welcher bei der Debatte scheinbar als skeptischer Gegner des begeisterten Rafael auftritt, wendet ein, in einem derartigen Staate würde kein Mensch mehr arbeiten wollen, Anarchie und allgemeine Unzufriedenheit würden die unmittelbaren Folgen sein – allein es wird ihm erwidert: „Ihre Ansicht befremdet mich keineswegs; wären Sie aber in Utopien gewesen, hätten Sie das Schauspiel der Einrichtungen jenes Landes gesehen wie ich, der ich dort fünf Jahre meines Lebens zubrachte und es zu verlaffen mich nur entschließen konnte, um den Blick der alten Welt auf diese neue zu richten: Sie würden gestehen, daß es ‚nirgend anderswo‘ eine vollkommener organisierte Gesellschaft giebt.“ Und nun muß Hythlodäus nach kurzer Rast eine genaue Beschreibung der Phantasie-Insel Utopia und ihrer Bewohner geben.

Utopia, genannt nach dem genialen Gesetzgeber und Eroberer Utopus, liegt auf der südlichen Halbkugel der Erde, dicht bei dem „neuen Kontinent“, mit dem sie als Halbinsel früher zusammenhing. Utopus ließ vor 1760 Jahren, also etwa 250 vor Christus die 15000 Schritte breite Landzunge abgraben, so daß eine größere mondsichelförmige Insel mit geräumigem wohlgeschützten Hafen entstand, auf der 54 Städte liegen, alle gleichartig gebaut und je etwa eine Tagereise voneinander entfernt; die Hauptstadt, Amaurotum genannt, in der Mitte des Gebietes, an schiffbarem Flusse in Verbindung mit der See gelegen, wird genau beschrieben. Auf dem Lande liegen zerstreut, aber planmäßig vertheilt, Meierhöfe, je von einer sogenannten Familie, bestehend aus 20 Männern und 20 Frauen nebst 2 Sklaven, bewohnt und bebaut. Jede Familie untersteht einem „Vater“ und einer „Mutter“, und je 30 Familien haben einen „Philarchen“, d. h. Wirthschaftsdirektor, unter sich. Jährlich wird die Hälfte der Landbewohner durch Städter ersetzt, damit jeder Utopier die Landwirthschaft verstehen und üben lerne. Die Erzeugnisse des Landes werden in die Magazine der Stadt abgeführt, von wo die Landbewohner ihrerseits die Erzeugnisse der gewerblichen und sonstigen Arbeit der Städter beziehen.

Die politische Verfassung ist ein auf völlig demokratischer Grundlage sich erhebendes Wahlkönigthum. Der Fürst ist lebenslänglich; die anderen Obrigkeiten werden jährlich gewählt, in wichtigen Fragen wird auf Volksabstimmungen zurückgegriffen.

Besonders anschaulich ist die Schilderung der Arbeit und des geselligen Lebens in Utopien. Die Landwirthschaft hat wie gesagt jeder Angehörige Utopiens ohne Ausnahme theoretisch wie praktisch zu erlernen; außerdem aber noch einen besonderen Beruf, je nach Geschicklichkeit und Wunsch. Sechs Stunden, drei vor- und drei nachmittags, werden auf materielle Arbeit verwendet, neun Stunden wird geschlafen. Großartige Speisesäle, Musikaufführungen, Spiele etc. verbinden die Bewohner tagtäglich. Da auch die Frauen durchweg in den ihnen angemessenen Berufen thätig sind, und Tagediebe, wie solche in den europäischen Staaten sich zahlreich finden, nicht geduldet werden, so genügt die sechsstündige Arbeit vollauf, zumal alles planmäßig geordnet ist, keinerlei unnöthige Luxuswaren erzeugt und Kleider beispielsweise so einfach, gut und dauerhaft hergestellt werden, daß sie sieben Jahre halten. Ist die Arbeit besonders ergiebig, so kann die Regierung durch einfaches Dekret sogar noch eine größere Verkürzung der Arbeitsdauer eintreten lassen. Der Zweck aller sozialen Einrichtungen in Utopien ist also der, „zuerst dem öffentlichen und individuellen Verbrauche seine Bedürfnisse zu sichern, dann aber jedem soviel wie möglich Zeit zu lassen, um sich der Knechtschaft des Leibs zu entledigen, seinen Geist frei auszubilden. Nur in dieser vollständigen Entwicklung finden sie (die Utopier) wahres Glück.“

Das gesellige Zusammenleben ist auf die erweiterte Familie gegründet; jede erwachsene Jungfrau von 18 Jahren und mehr erhält nach Wahl einen Gatten von 22 oder mehr Jahren; überzählige treten in unterzählige Familien über; wird die Landesbevölkerung zu groß, so greift ein Auswanderungsdekret ein, es werden Kolonien gegründet. Der Familienvater, dem Weib und Kinder gehorchen, holt auf dem Markte seines Stadtviertels alle Bedürfnisse für die Seinen, ohne Geld zu brauchen, lediglich auf seine Person hin. Wer irgendwie kann, nimmt jedoch an den öffentlichen Mahlzeiten theil, bei denen Alt und Jung, Mann und Frau nach Rafaels Urtheil planvoll und reizvoll gemischt sitzen, plaudern und zuhören. Für Kranke liegen vor der Stadt gut eingerichtete Spitäler; auch die Schlachthäuser liegen vor der Stadt, in ihnen arbeiten nur Sklaven, da das Metzgerhandwerk den Utopiern nicht zusagt. Diejenigen, welche eine Reise machen wollen, lassen sich Pässe geben, arbeiten, wo sie hinkommen, in ihrem Berufe, da der ganze Staat nur eine Verwaltung hat. Geld wird nicht gebraucht. Gold und Geschmeide dienen nur den Unmündigen zum Spiel und den Sklaven als Sinnbilder der Erniedrigung. Die Halsketten der Sklaven prangen wie die Nachtgeschirre in purem Golde. Um das schroffe Verhalten der Utopier schmuckstrotzenden „hohen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_171.jpg&oldid=- (Version vom 13.5.2023)