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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

„Ja, die Frau Obersthofmeisterin halten heute wieder die Lesestunde,“ sagte Wendel noch einmal. „Sehr erbaulich, Herr von Nievern. Ein paarmal schon haben Hoheit die Frau Pfalzgräfin geruht, eine Weile zuzuhören. Wie Sie bemerken, muß immer ein Sessel für sie gesetzt werden.“

„Ja, den Sessel sehe ich,“ meinte Herr von Nievern trocken.

„Es geht aber sonst ganz zwanglos, ganz – wie soll ich nur sagen? – nun, ganz familiär zu,“ redete der alte Hausoffiziant weiter. „Die Frau Pfalzgräfin wünscht, daß die Damen sich unter sich und wie zu Hause fühlen ... sie bringen ja auch, was die Verheiratheten silld, ihre Kinder, will sagen die jungen gnädigen Herrschaften mit. Drinnen im grünen Sälchen wird ein goûter serviert ... die jungen Herrschaften bekommen Konfekt und Milch.“

Jetzt saß das Lächeln des Herrn von Nievern gleichsam in dem Grübchen des hübschen festen Kinns. „Trinken die Damen auch Milch?“ fragte er.

„Nein, wenn die Lektüre beendet ist, wird Thee herumgereicht,“ belehrte Herr Wendel ernsthaft. Seine Augen wanderten dann nach der großen Uhr über der mittleren Saalthür, und er fügte hinzu: „Dreiviertel auf sechs! Jetzt müssen die Damen bald hier sein.“

Parbleu, schon so spät!“ meinte Herr von Nievern, und er schritt nun rasch auf eben jene Thür unter der Uhr zu, die von dem Flügel in den Mittelbau des Schlosses führte. Haushofmeister Wendel folgte ihm ehrerbietig, um die Thür vor ihm aufzustoßen und sich mit einer Verbeugung daneben aufzupflanzen, während der Hofherr hindurchschritt. Merkwürdig, daß er es fertig brachte, dabei, während seine ganze Person diensteifriger Respekt war, doch noch eine Frage an den Mann zu bringen: „Gnädiger Herr haben jetzt Vortrag bei der Frau Pfalzgräfin?“

„Ja, vortrefflichster der Haushofmeister“ – mit angenommenem Ernst und übermüthigem Augenblitz – „immer vorausgesetzt, daß Hoheit ihren ergebenen Diener nicht samt seinem Vortrag zum Teufel schickt, um Muße für die fromme Lektüre mit Milch zu gewinnen.“

„O – ah – gnädiger Herr scherzen!“ Der Haushofmeister verbeugte sich, etwas betreten lächelnd, hinter dem Herrn her, den sein federkräftiger Schritt jetzt davontrug. Er schloß die hohen Flügelthüren hinter jenem und sah dann die leeren wartenden Sessel für die Erbauungsstunde und besonders den mit der Krone kuriosen Blickes an. Der wird ja nun wohl leer bleiben – das waren so seine Gedanken dabei.

Eine halbe Stunde später waren aber die andern Stühle wenigstens zum großen Theile besetzt, und wo sich noch ein leerer fand, da bedeckten ihn beinahe die weiten Falbelröcke der Damen, und die Köpfe mit den Lockenscheiteln neigten sich über die Lücke gegeneinander mit Bewegungen des Beifalls, wenn die Frau Obersthofmeisterin oben am Ende einmal eine Pause im Lesen machte. Und die „Betrachtungen über den Nutzen, so die heilige Kirche durch ihre Sakramente denen Seelen gewähret“, waren von dem geistlichen Verfasser glücklicherweise in ziemlich kurze Kapitel eingetheilt. Wenn die Obersthofmeisterin mit einem zum Schluß gelangt war, legte sie das Buch offen neben sich auf den Tisch, und das war dann das Zeichen für den Beginn einer anfangs noch mit mäßigen Stimmen geführten Unterhaltung, die aber allgemach etwas lebhafter wurde und zuletzt auch hier und da ins Weltliche hinüberschattierte. Immerhin aber lag doch eine gewisse leicht feierliche Dämpfung über dem ganzen Verein der zu diesen Erbauungsstunden Eingeladenen.

Diese Einladung war eine Ehre, besonders für die weiter unten sitzenden Damen, von denen einige, wie die Kammerräthin, die Prokuratorin und die Schultheißin, nicht einmal von Adel waren. Sie sahen besonders erbaut aus und hörten mit einer völlig hingenommenen Ausschließlichkeit zu, als Personen, welche sich dem Heile, das ihnen unter so ehrenvollen Umständen entgegengebracht wurde, ganz kritiklos hingaben. Der Adel weiter oben ließ die Sache schon etwas mehr an sich herankommen. Man hörte zwar auch mit schicklichem Ernste zu, aber man begab sich doch nicht aller Urtheilskraft; wie zum Beispiel die Frau von Wartenberg dem Fräulein von Oettingen jetzt zuflüsterte, die Obersthofmeisterin sei einmal wieder greulich verschnupft heute, worauf das Fräulein die Augen zum Himmel hob, als wollte sie sagen, es gehöre christliche Geduld dazu, den durch die Nase gehaltenen Vortrag überhaupt anzuhören.

Durch die Nase sprach sie allerdings, die arme Obersthofmeisterin, und zwar durch eine nicht eben schöne, dünne, vorn geröthete. Wenn sie an chronischem Schnupfen litt, so war das kein Wunder. Das Hofleben fordert, wie alle wissen, die es kennen, eine unerhörte Abhärtung und Verleugnung aller körperlichen Menschlichkeiten, ja sozusagen des Körpers überhaupt. Jung war sie auch nicht mehr, die Obersthofmeisterin von Kallenfels, sondern in dem Alter, in dem eine Frau bürgerlichen Standes, oder die in der Familie lebt, sich erlanben darf, eine Matrone zu sein. Aber so gut wurde es der Obersthofmeisterin nicht. Mageren langen Körpers, auf dem die Hoftoiletten recht gut zur Geltung kamen, war sie eine jener ton- und farblosen Naturen, denen das Leben alles mögliche Säuerliche bietet, weil sie dabei nur wenig die Miene verziehen. Ihr Amt bei der ziemlich jung verwitweten Pfalzgräfin war keine Sinekure; es erforderte ihre Gegenwart bei allem, was der Hof vornahm. Sie saß mit der Hoheit in der Karosse, und so oft der durchlauchtigsten Dame eine fliegende Hitze ankam, wurde auf der Seite der Obersthofmeisterin und ihres wahrscheinlich daher empfindlichen linken Ohres ein Wagenfenster geöffnet, wenn nicht gar auf beiden Seiten die Scheiben niedergelassen und einem heillosen Zugwind Eingang gewährt wurde. Vom langen Stehen auf den Steinplatten des kleinen Empfangssaales hatte die Obersthofmeisterin eine Steifheit im linken Beine davongetragen, die ihren am Hofe heimlich bespöttelten Stelzengang verursachte. Der Aufenthalt in einem kaum geheizten Kabinett neben dem Schlafzimmer der Fürstin, morgens vor dem Lever derselben, war für sie und die Ehrenfräulein an Wintertagen auch nicht angenehm. Da sie sich aber niemals beklagte und alles mit demselben trockenen Anstand ertrug, so bestand die willkürliche Annahme, daß sie die Kälte nicht fühle. Ueber ihre rothe Nasenspitze und die bläulichen Finger wurde von seiten der Jugend gekichert, keinem Menschen aber fiel es ein, diese Eigenthümlichkeiten mit einem Mangel an körperlichem Behagen bei ihr irgend in Verbindung zu bringen.

Eben war das zweite Kapitel beendet, und die Damen bedienten sich der Freiheit, nun auch ihrerseits ihre Zungen mäßig gebrauchen zu dürfen. Dagegen gönnte man den Händen einige Ruhe, die während der Vorlesung keineswegs müßig waren, sondern sich in einer diesen Erbauungsstunden angemessenen Weise mit der Anfertigung von Kleidern für Arme beschäftigten.

Eine der Damen hielt eben ein Kinderkamisol, an dem sie sich bethätigt hatte, in die Höhe und schüttelte jetzt das Kleidungsstück wie ermuthigend, da es ihm irgendwo zu fehlen schien.

„Mich dünkt, Sie haben die Aermel verkehrt eingesetzt, Fräulein von Motz,“ sagte ihre Nachbarin, eine noch hübsche Frau mit zartem verblühten Gesicht und kühler Stimme.

„Ach, Frau von Biberen, machen Sie mich nicht unglücklich! Das alles noch einmal auftrennen!“ rief Fräulein von Motz in halb scherzhafter Verzweiflung. „Polyxene hatte mir neulich den einen Aermel eingesteckt, mit Heftnadeln, damit ich mich danach richten könnte, aber die Nadeln sind herausgerutscht .. “

„Wo mag Fräulein von Leyen denn heute bleiben?“ warf eine Dame von gegenüber dazwischen.

„Sie kommt gewiß noch,“ meinte Fräulein von Motz und wandte einen hilflosen Blick von dem Machwerk in ihren Händen nach der Gartenseite des Saales.

„Wahrscheinlich wenn wir uns mit dem Sakramente der Ehe beschäftigen,“ sagte Frau von Biberen, deren scharfes Züngelchen gefürchtet war. Fräulein von Motz, noch ziemlich jung, aber vorausbestimmt zur alten Jungfer mit ihrem Knörzlein von Nase in einem dicken apfelrunden Gesicht, Fräulein von Motz war demnach durchaus nicht schön, aber eben so wenig bösartig. Sie ließ die spitze Bemerkung der Frau von Biberen unbeachtet und schaute unverwandt nach ihrer Freundin aus, um dann einige Augenblicke später mit einem Seufzer der Erleichterung vor sich hinzumurmeln: „Da ist sie.“

Ueber den Kiesplatz vor dem Saale kam in stolzer Haltung ein schlankes blondes Mädchen geschritten, den Arm über der Schulter eines ebenso schönen hellhaarigen Knaben. Sie hatten beide etwas vornehm Unbekümmertes, wie sie, so nahe der fürstlichen Behausung, noch mehr miteinander als mit der Versammlung drinnen beschäftigt schienen, die aber auf die Herankommenden desto aufmerksamer war. Die Damen machten fast sämtlich lange Hälse. „Wieder in dem dünnen Fähnchen!“ flüsterte eine – es war die Prokuratorsfrau – zu ihrer Nachbarin. „Das kennen wir nun auch.“

Indessen hatten Polyxene von Leyen und ihr kleiner Vetter Ludwig von Leyen sich draußen auf der Rampe vor der Glasthür, die zu dem grünen Sälchen führte, getrennt. Denn der zwölfjährige

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_222.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2020)