Seite:Die Gartenlaube (1893) 236.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

erst während seines Aufenthalts in dem Hasselschen Institut zu Frankfurt a. M., in das er mit vierzehn Jahren übertrat, scheint seine Neigung für die Naturwissenschaften, besonders für Physik und praktische Mechanik, zum Durchbruch gekommen zu sein.

Allerlei mechanische Probleme begannen ihn zu beschäftigen, deren Lösungen von der Eigenart seines erfinderischen Geistes Zeugniß ablegten. Eine seiner Lieblingsideen war die Erfindung eines zuverlässigen Weckers, und er ruhte nicht eher, als bis er einen zustande gebracht hatte, der seinen Ansprüchen genügte. Er bestand, wie er mir später mit drolligem Humor erzählte, aus einem von der Straße heraufgeholten Pflasterstein, den er im Schlafzimmer als Gewicht aufhing und mit einer Schwarzwälder Uhr in Verbindung setzte. Der Stundenzeiger wirkte auf einen empfindlichen Hebelmechanismus, welcher den in einer gewissen Höhe schwebenden Stein zur bestimmten Zeit in Freiheit zu setzen hatte. Im Herabfallen sollte dieser mittels eines starken über eine Rolle laufenden Strickes den Arm des Schläfers kräftig in die Höhe reißen. Es kam jedoch nie so weit; Reis gestand, daß er in banger Erwartung dieses grausamen Augenblickes regelmäßig zu früh aufwachte und es dann vorzog, vor Eintritt der Katastrophe den schweren Pflasterstein abzuhängen. Immerhin, meinte er, habe der Wecker auch auf diese Weise seinen Zweck erfüllt.

Der rege Eifer, mit welchem der junge Mann den Naturwissenschaften oblag, veranlaßte die Lehrer, seinem Onkel und Vormund den Rath zu ertheilen, Philipp nach seinem Austritt aus der Anstalt die polytechnische Schule in Karlsruhe besuchen zu lassen. Aber alle ihre Bemühungen scheiterten an dem festen Willen des Vormundes, der sein Mündel zum Kaufmannsstande bestimmt hatte. Durch seinen Vater schon frühzeitig an Gehorsam gewöhnt, fügte sich Philipp mit schwerem Herzen in das Unabänderliche und trat am 1. März 1850 in das Farbwarengeschäft von J. F. Beyerbach als Lehrling ein, indem er zugleich seinem Vormund schrieb, daß er auf alle Fälle nach Beendigung der Lehrzeit seine Studien fortzusetzen beabsichtige.

Durch Fleiß und Pünktlichkeit erwarb er sich bald die Zufriedenheit und das Vertrauen seines Prinzipals. Zugleich aber benutzte er in seinen freien Stunden jede Gelegenheit zur Erweiterung seiner Kenntnisse. Er nahm Unterricht in der Chemie bei Dr. Julius Löwe und besuchte Professor Böttgers Vorlesungen über Chemie und dessen Vorträge über die neueren Entdeckungen und Beobachtungen im Gebiet der Physik und Chemie. Endlich lernte er noch das Drechseln, was ihm später bei Ausführung seiner Erfindungen sehr zu statten kam. Noch heute ist die Familie Reis im Besitz eines kunstvoll von ihm gedrechselten Aschenbechers. Den Rest der freien Zeit verwendete der Unermüdliche zu allerlei mechanischen Arbeiten. Bald waren es Rollschuhe als Ersatz der Schlittschuhe für die Sommerszeit, bald ein dreiräderiges Velociped, was seinen Geist beschäftigte, ja er gerieth sogar in den Bannkreis eines Phantoms, dem schon so viele zum Opfer gefallen sind: er meinte, er müsse das „Perpetuum mobile“ erfinden. Indessen überstand er glücklich diese Krisis, da sein gesunder Menschenverstand bald die Unmöglichkeit erkannte, eine Vorrichtung zu schaffen, deren Nutzwirkung größer wäre als der Aufwand an bewegender Kraft.

So kam das Ende seiner vierjährigen Lehrzeit heran und mit diesem der Zeitpunkt, wo sich Philipp Reis zum Eintritt in meine polytechnische Vorschule anmeldete.

Bei der natürlichen Begabung, dem gereiften Verstande und dem ernsten Streben, das Philipp Reis auszeichnete, war es zu erwarten, daß er das während seiner Lehrzeit Versäumte in verhältnißmäßig kurzer Zeit wieder hereinbrachte. Und wenn er sich der Experimentalphysik und Mechanik besonders lebhaft widmete, so erklärt sich das aus seinem früh erwachten Sinn für die praktische Seite der Naturwissenschaft. Doch das Dargebotene genügte dem Wissensdrange des jungen Mannes nicht. „Mehrere meiner Mitschüler,“ äußert sich Reis in seinen hinterlassenen Aufzeichnungen, „junge Leute im Alter von 18 bis 20 Jahren, empfanden es mit mir als einen Mangel, daß Naturgeschichte, Geschichte und Geographie nicht gelehrt wurden. Wir beschlossen daher, uns gegenseitig in diesen Fächern zu unterrichten. Ich übernahm die Geographie und gewann aus dieser ersten Veranlassung die Ueberzeugung, daß das Lehren mein Beruf sei. Herr Dr. Poppe bestärkte mich darin und unterstützte mich mit Rath und That.“ Es überraschte mich anfangs, als er mir seine Neigung zum Lehrerberuf enthüllte, da ich bei seinem so entschieden ausgeprägten Sinne für das Praktische bisher in ihm nichts anderes als den künftigen Techniker gesehen hatte. Doch mußte ich den Gründen, die ihn zur Aenderung seines Lebensplanes bestimmt hatten, schließlich beipflichten.

Durch sein treuherzig biederes Wesen und seine heitere Laune hatte sich Reis in kurzer Zeit die Zuneigung seiner Mitschüler erworben. Ich selbst trat zu ihm schon im Laufe des ersten Semesters in das Verhältniß eines älteren Freundes, wozu wesentlich eine gemeinsame Reise nach der Schweiz beitrug, die wir in den Sommerferien 1854 miteinander unternahmen. Wie diese Reise mich dem jungen Manne persönlich nahe brachte, so hat mir auch die Einführung eines für Natureindrücke so empfänglichen Gemüths in die Zauber der Hochgebirgswelt einen hohen Genuß bereitet.

Im Frühjahr 1855 verließ Reis die polytechnische Vorschule, um in Kassel bei den hessischen Jägern seiner Militärpflicht zu genügen. Nach dieser Unterbrechung seiner Studien kehrte er nach Frankfurt zurück, wo er mit allem Eifer seine Privatstudien wieder aufnahm, um sich auf den Besuch der Universität Heibelberg vorzubereiten und dort den Schlußstein zu seiner Ausbildung als Lehrer zu legen. Als solcher wollte er sich in Frankfurt niederlassen und in verschiedenen Anstalten den Unterricht in Mathematik und Naturwissenschaften übernehmen. Auf diese Weise hoffte er einen seinen Neigungen und Kenntnissen entsprechenden Wirkungskreis zu finden. Die folgenden zwei Jahre, 1856 bis 1858, beschäftigte er sich vorzugsweise mit Akustik, strahlender Wärme und Elektricität und unternahm in dieser Richtung die ersten selbständigen experimentellen Untersuchungen, wozu ich ihm meine Apparate zur Verfügung stellte. Unter anderem hatte ich ihm zwei große messingene Parabolspiegel geliehen, welche aus der mechanischen Werkstätte von Wilhelm Albert stammten. Als ich ihn eines Tages in dem kleinen Laboratorium besuchte, das er sich in einem Erdgeschoßraum der großen Gallusgasse, da wo jetzt das Hotel du Nord steht, eingerichtet hatte, fand ich ihn eifrig drehend an einer Elektrisiermaschine, in der Absicht, im Brennpunkte des einen isolierten Hohlspiegels elektrische Funken überspringen zu lassen, und in gespannter Erwartung, ob sich an einem etwa 8 Meter entfernten, im Brennpunkte des zweiten Hohlspiegels angebrachten Elektroskop eine Wirkung zeige. Schon seit einiger Zeit hatte ihn nämlich der erst neuerdings bestätigte Gedanke beschäftigt, daß die Elektricität eine besondere Schwingungsform des Aethers sei und daß sie in ähnlicher Weise im Raume sich fortpflanze und demselben Reflexionsgesetze folge wie Licht und strahlende Wärme. Seine Versuche scheinen jedoch damals zu keinem Ergebnisse geführt zu haben, aus dem sich sichere Schlüsse hätten ziehen lassen, was schon aus dem Grunde erklärlich ist, weil ihm die für feinere Untersuchungen erforderlichen Hilfsmittel nicht zu Gebote standen.

In Friedrichsdorf hatte sich inzwischen das Garniersche Institut innerhalb der zehn Jahre, welche verflossen waren, seit Philipp Reis als vierzehnjähriger Knabe dasselbe verlassen, bedeutend vergrößert und das Bedürfniß, das Lehrerpersonal zu vermehren, herausgestellt. Als nun Reis im Frühjahr 1858 dem Studienrathe Garnier einen Besuch abstattete und ihm bei dieser Gelegenheit seinen Lebensplan mittheilte, bot ihm Garnier vertrauensvoll sofort eine Stelle an. Mit Freuden erklärte sich Reis zur Annahme bereit, und im Herbst desselben Jahres erfolgte seine Einführung in den neuen Wirkungskreis. In einem Nebengebäude der Anstalt richtete er sich ein Laboratorium und physikalisches Kabinett nebst naturgeschichtlicher Sammlung ein, und in diesem kleinen Reiche waltete er als unumschränkter Herrscher. Im Frühjahr 1859 heirathete er dann die Tochter seines ehemaligen Vormundes und gründete sich sein trautes Heim, nachdem er ein dem Studienrath Garnier gehöriges Haus gekauft hatte. Hier war Reis in seiner freien Zeit wieder Mechanikus, Schlosser, Tischler und Drechsler in einer Person. In den Augen der Zöglinge umgab den Tausendkünstler bald ein geheimnißvoller Nimbus; man flüsterte sich zu, Herr Reis verschaffe sich auf irgend eine räthselhafte Weise mittels geheimer Apparate Kenntniß von allen muthwilligen Streichen. Und so ganz ohne Grund war dieses Gerücht nicht. Er hatte z. B. in seinem Arbeitszimmer an einer passenden Stelle eine Camera obscura aufgestellt, welche ihm von allen Vorgängen auf dem Spielplatz ein genaues Bild lieferte. Im Hofe befand sich ein kleiner Laufbrunnen, an welchem die Schüler öfters durch Zuhalten des Rohres ihren Muthwillen ausließen. Diesem Unfug zu steuern, hatte Reis in seinem Zimmer ein mit dem Brunnen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_236.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)