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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


und seine Kundschaft verlieren Sie dadurch auch nicht … er ist doch noch nie bei Ihnen abgestiegen.“

„O, Herr Doktor, wo denken Sie hin, in meinem bescheidenen Hause! Die Odensberger Herrschaften fahren immer gleich zur Bahn. Jedoch die sämtlichen Herren Beamten kehren bei mir ein; ich bin ja überhaupt auf den Verkehr mit Odensberg angewiesen und möchte um keinen Preis –“

„Es mit einer Partei verderben!“ ergänzte Hagenbach. „Natürlich, das ist Geschäftssache. Nicht wahr, Runeck soll heute sprechen? Da wird in Ihrem großen Saale kein Plätzchen leer bleiben, und Sie haben einen hübschen Verdienst.“

Herr Pankratius Willmann hob abwehrend beide Hände und blickte nach der Decke hinauf. „Was frage ich nach dem Verdienst! Aber ich kann mein Geschäft in diesen schweren Zeiten nicht zu Grunde gehen lassen. Ich bin Familienvater, habe sechs Kinder –“

„Nun, die schweren Zeiten sieht man Ihnen nicht an,“ spottete der Doktor. „Uebrigens haben Sie in diesem Augenblick wieder eine merkwürdige Aehnlichkeit mit Ihrem seligen Vetter, dem Wüstenmenschen, der blickte gerade so wehmuthsvoll gen Himmel. Aber komm, Dagobert, wir müssen aufbrechen sonst versäumen wir den Zug.“

Er trank sein Bier aus und stand auf. Der dicke Lammwirth begleitete ihn bis zur Hausthür und bat noch einmal de- und wehmüthig, Herrn Dernburg doch gütigst mittheilen zu wollen, daß er einerseits fest zur Partei der Ordnung und Autorität halte, aber daß er als Familienvater und bei diesen fürchterlichen Zuständen –“

„Ich werde ihm sagen, daß Sie wieder einmal das Opfer Ihres Berufes sind,“ unterbrach Hagenbach das Klagelied. „Zittern Sie nur ruhig weiter und streichen Sie das schöne Geld ein. Ihr Bier ist vortrefflich und die Herren wissen das ohne Zweifel zu schätzen. Es wird sie menschlicher stimmen und das ‚Goldene Lamm‘ retten, wenn es zum äußersten kommt.“

Herr Willmann schüttelte bei dieser leichtfertigen Auffassung der Dinge sanft und vorwurfsvoll das Haupt und verabschiedete sich mit einer tiefen Verbeugung von seinen Gästen, die nach dem nur einige hundert Schritt entfernten Bahnhof hinübergingen, wo der Zug schon vorgefahren war. Während Hagenbach mit seinem Neffen über den Bahnsteig schritt, hielt er ihm noch eine eindringliche Abschiedsrede. „Das eine möchte ich mir ausgebeten haben, daß Du in Berlin ordentlich studierst und nicht auf Dummheiten verfällst wie zum Beispiel dieser Runeck,“ sagte er mit Nachdruck. „Der war bis dahin ganz vernünftig, in Berlin ist er aber unter die Umstürzler gegangen. Junge, ich sage Dir, wenn Du Dir dergleichen einfallen läßt –“

Er machte ein so grimmiges Gesicht, daß der blonde Dagobert erschrak und betheuernd die Hand auf die Brust legte. „Ich gehe nicht unter die Umstürzler, lieber Onkel, gewiß nicht,“ versicherte er mit rührender Aufrichtigkeit.

„Einen besonderen Fang würden sie auch nicht an Dir machen,“ meinte der Doktor geringschätzig. „Aber Du bist leider zu allerlei Dummheiten angelegt. Ich hoffe nur, daß jenes verrückte Gedicht ‚An Leonie‘ Dein erstes und letztes gewesen ist, wenigstens habe ich Dir den Standpunkt nachdrücklich genug klar gemacht. – Doch da wird schon das Zeichen zur Abfahrt gegeben! Hast Du Dein Handgepäck? Dann steig' ein, und glückliche Reise!“

Er schlug die Wagenthür zu und trat zurück. Dagobert athmete förmlich auf, als er sich durch die solide Wagenwand von seinem Onkel getrennt sah, denn in seiner Brusttasche ruhte ein langes rührendes Abschiedsgedicht „An Leonie“. Der junge Dichter hatte zwar nach jenem ersten mißglückten Versuche es nicht wieder gewagt, der Angebeteten diesen Erguß seiner Gefühle in die Hände zu spielen, aber er hatte beschlossen, ihn von Berlin aus brieflich zu senden, mit der Versicherung, daß seine Liebe ewig sei, wenn die rauhe Welt sich auch trennend zwischen ihn und den Gegenstand seiner Sehnsucht dränge.

Diese „rauhe Welt“ in der Gestalt des Doktors stand auf dem Bahnsteig und winkte noch einen Abschiedsgruß, als der Zug sich jetzt in Bewegung setzte. Dann suchte Hagenbach den Stationsvorstand auf und erkundigte sich, ob der Berliner Schnellzug etwa Verspätung habe.

„Nein, Herr Doktor, der Zug kommt pünktlich in zehn Minuten,“ versetzte der Beamte. „Sie erwarten jemand?“

„Den jungen Grafen Eckardstein, der heute eintreffen will.“

Der Stationsvorstand machte ein verwundertes Gesicht. „Graf Viktor kommt? Es hieß ja, es hätte ein unheilbares Zerwürfniß zwischen ihm und seinem Bruder gegeben damals im Frühjahr, als er so urplötzlich abreiste. Dann steht es wohl schlimm in Eckardstein?“

„Wenigstens so, daß Graf Viktor davon benachrichtigt werden mußte. Er ist der einzige Bruder.“

„Ja, ja – der Majoratsherr ist unvermählt,“ ergänzte der Beamte bedeutungsvoll. „Wollen Sie nicht in das Wartezimmer treten, Herr Doktor?“

„Ich danke, ich bleibe draußen, es handelt sich ja nur noch um einige Minuten.“

Hagenbach blieb nicht der einzige Wartende, Landsfeld erschien mit einem Trupp Arbeiter, die offenbar auch jemand empfangen wollten, denn sie pflanzten sich auf dem Bahnsteig auf und unterhielten sich laut und erregt über die bevorstehende Wahlversammlung. Endlich brauste der Zug heran. Er brachte ziemlich viel Reisende, die hier auf der größeren Haltestation ausstiegen, und einige Minuten lang herrschte ein ungewohntes Gewühl in der Bahnhofshalle.

Hagenbach schritt suchend an der Wagenreihe entlang, als er plötzlich die hohe Gestalt Runecks vor sich sah, der eben den Wagen verlassen hatte. Beide stutzten im ersten Augenblick, dann machte Egbert eine rasche Bewegung, als wollte er auf den Arzt zutreten; aber Landsfeld hatte ihn bereits entdeckt und drängte sich mit seinen Gefährten heran mit lärmender Begrüßung umringten sie den jungen Ingenieur, nahmen ihn in die Mitte und brachten, als sie den Bahnhof verließen, ein stürmisches Hoch auf ihn aus.

„Der Herr Volkstribun segelt in recht hübschem Fahrwasser,“ brummte der Doktor ärgerlich. „Eine nette Ueberraschung, die er Herrn Dernburg da beschert hat! Ich bin nur neugierig, was unsere Odensberger dazu sagen. Die sind auch dabei und, wie es scheint, in ziemlicher Menge.“

Er beschleunigte seinen Schritt, denn er sah eben den jungen Grafen Eckardstein in Begleitung eines älteren Herrn aus dem letzten Wagen steigen. Auch Viktor bemerkte den Arzt und eilte ihm entgegen „Es ist doch nichts vorgefallen in Eckardstein?“ fragte er hastig.

„Nein, Herr Graf, der Zustand des Kranken ist seit vorgestern unverändert. Da ich aber gerade an der Bahn war, wollte ich Sie doch empfangen.“

„Herr Doktor Hagenbach,“ wandte sich der junge Graf an seinen Begleiter. „Mein Onkel, Herr von Stetten!“

Hagenbach verbeugte sich, er kannte den Namen und wußte, daß er den Bruder der verstorbenen Gräfin Eckardstein vor sich hatte. Stetten reichte ihm die Hand.

„Sie behandeln also meinen Neffen, Herr Doktor?“

„Jawohl, Herr von Stetten, ich wurde auf ausdrücklichen Wunsch des Hausarztes zugezogen. Mein Kollege wollte die Verantwortung nicht allein übernehmen.“

„Da hatte er vollkommen recht. Seine Nachrichten lauteten so bedenklich, daß ich mich entschloß, Viktor zu begleiten. Die Sache ist ernst?“

„Eine Lungenentzündung ist immer ernst,“ versetzte der Arzt ausweichend. „Wir müssen auf die kräftige Natur des Kranken bauen. Immerhin hielten wir es für Pflicht, dem Herrn Grafen die Gefahr nicht zu verschweigen, in der sein Bruder schwebt.“

„Ich danke Ihnen dafür,“ sagte Viktor gepreßt. Er sah bleich und erregt aus; der Gedanke, den Bruder, von dem er in bitterem Unfrieden geschieden war, vielleicht auf dem Sterbebett wiederzusehen, bedrückte ihn offenbar schwer. Er verhielt sich meist schweigsam, während Stetten die eingehendsten Fragen that und sich ausführlich über den Zustand des Majoratsherrn unterrichten ließ. Draußen vor dem Bahnhof hielt ein Eckardsteinscher Wagen, und der Doktor verabschiedete sich von den beiden Herren mit dem Versprechen, morgen früh nach dem Schlosse zu kommen. Dann ging er nach dem „Goldenen Lamm“ hinüber, um seinem Kutscher zu sagen, daß er sich zur Abfahrt bereit machen solle.

(Fortsetzung folgt.)




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_255.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)