Seite:Die Gartenlaube (1893) 266.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

verworfen. Das ist vorüber jetzt,“ sprach sie weiter, mit einem stillen Leuchten in den Augen „vorüber für diese Zeitlichkeit, wie Gott mich hat erfahren lassen. Mein Friede ist unaussprechlich, und der böse Feind, da er mich nächtens dem Herrn hat singen hören mit lauter Stimme, ist gewichen. Pfauchend vor Wuth fuhr er durch den Rauchfang. Ich sah ihn nicht, denn mondlose Finsterniß war allenthalben, aber ich hörte ihn. Und schwerlich wird er mir in dieser meiner Leiblichkeit noch einmal kund werden.“

Polyxene hörte dies alles an, erstaunt wohl, aber weit entfernt, diejenige, die so sprach, für eine halbverrückte Thörin zu halten. Davon würde schon der klare Blick jener Augen sie abgehalten haben und die ruhige Sprechweise felsenfester Ueberzeugung, auch wenn nicht über dem ganzen Wesen der Einsamen der Hauch des Ungewöhnlichen, der von seltenen inneren Erfahrungen auszugehen schien, gelegen hätte. Das Fräulein hielt jetzt das alte abgegriffene Buch in Händen; dasselbe sprang auf beim Titelblatt, und sie las die Worte: „Theologia Germanica oder Teutsche Theologie“ in krausen tiefschwarzen Lettern und dann, das Einzige, worauf noch sonst ihr Auge fiel, die Jahreszahl MDXVI. Also ein Buch, das zweihundert Jahre alt war!

Daß Theologie Gottesgelahrtheit heiße, wußte das Fräulein wohl; war man doch, auch als Katholikin, am Hofe der kleinen Pfalzgräflichen Hoheit jetzt mit diesem und mit noch längeren Worten nicht nur, sondern sogar mit allerhand theologischen Spitzfindigkeiten vertraut, seit der Berather des Witwenstandes der Fürstin, der Jesuitenpater Gollermann, ein sehr eifriger Mann, dort die Gewissen regierte. Wenn aber diese kranke Frau ein Buch, welches sich Theologia benannte, las und über alles schätzte, warum war sie dann aus der Gemeinschaft der übrigen Christen schmählich ausgestoßen? Vielleicht, dachte Polyxene in ihrer Einfalt, weil diese Theologia sich die deutsche nannte? Sie ließ einige Seiten des Buches durch ihre schlanken Finger laufen. Der Text war in deutscher, etwas alterthümlicher Sprache abgefaßt. Sie stieß auf Kapitelüberschriften, die in ungefügen Wendungen ebenso ungewohnte Dinge sagten: „Wie wir zum wahren Licht nitt gelangen mögen durch vill fragens und studirens, oder durch des natürlichen Menschen Einsehen und Verstand, sondern indem wir warhafftiglich uns selbsten ganz auffgeben, hassen und verschmähen, uns und alle Ding“ hieß es da. Das klang allerdings ganz anders, als was in der Erbauungsstunde im Schlosse durch die Obersthofmeisterin vorgelesen wurde, aus Büchern, welche der Pater Gollermann verordnete. Aber mehr noch stand Polyxenen bevor. Die Blätter des Buches, als es so mit dem Rücken auf ihrer Hand lag, fielen auseinander, so daß die innere Seite des Einbandes vorn und daneben ein weißes Blatt sichtbar wurde. Und auf diesem las Polyxene mit leisem Aufschrei die abgeblaßten Schriftzüge eines Namens – es war der ihrer Mutter!

„Anne Rochette von Leyen.“ Polyxene hatte die feinen und bestimmten Federzüge kaum erblickt, als sie – mit einer Regung flammenden Unwillens zu allererst – das alte braune Buch gegen die Brust drückte. Etwas, das ihrer sehnsüchtig betrauerten Mutter gehört hatte – wie konnte das irgendwo anders sich befinden als in ihrem Besitz! Einen Schatten des Vorwurfes in den Augen, wendete sie sich wieder an das Buch, wie um Auskunft. Und das stumme Buch sprach weiter zu ihr. Sie sah, daß dem Namen ihrer Mutter noch einige Worte in deren Handschrift folgten. Offenbar aber waren sie später, mit anderer Tinte hinzugefügt. „Anne Rochette von Leyen ihrer getrewen Magdalena, sie Gottes Huld empfehlend“ – so stand hier geschrieben.

„Ihr seid Magdalena?“ fragte Polyxene, scheu und in Ehrfurcht zu der hinüberblickend, die doch nur eine Magd gewesen war.

„So hieß ich, ja,“ sagte jene, als liege die Zeit, da sie einen Namen geführt hatte wie andere Menschen, weit hinter ihr. „Ich war jung damals und in all der Thorheit befangen, die der Herr auch den Seinen zuläßt, damit sie erfahren, daß sie nichts sind, weniger als nichts ohne ihn. Aber ich liebte Euere Mutter, nach meiner irdischen Thorheit freilich zuerst nur ihres adlig holden Wesens halber, von ganzem Herzen. Sie hingegen, bei dem Lichte, das in ihr wohnte, erkannte, daß Gott auch mich möge ausersehen haben. Sie machte mich zu ihrer Kammermagd; da war ich stets um sie in den letzten Wochen ihrer Schwäche, als ihr zarter Körper von der reinigenden Flamme des Siechthums verzehrt wurde.“ Und mit leiserer geheimnißvoller Stimme fuhr sie fort: „Da habe ich Wunder der Gnade geschaut, die der Herr in ihr wirkte, so groß, daß auch die, deren Augen gehalten waren, erstaunen mußten.“ Sie verstummte wieder; Polyxene wartete geduldig. Jedes Wort war ihr werth, das ihre Mutter zum Gegenstand hatte, aber wie viel lieber noch hätte sie andere weit geringere Dinge gehört als diese schwärmerischen Zeugnisse von der Verklärtheit jenes geliebten Schattens schon auf Erden – Dinge, wodurch der Schatten Körper gewonnen hätte! Wie ihre Mutter ausgesehen, gesprochen, sich gekleidet habe; ob sie sich ihres kleinen Mädchens, dieser armen Polyxene, die sie so bald verlassen mußte, auch gefreut? Ob sie Schmerzen gelitten in der Krankheit, wie lange diese gedauert habe, und unendlich vieles mehr. Ja, so ungeistlich war Fräulein Polyxene noch gesinnt: hätte sie jetzt erfahren können, ob etwa ein Husten ihre arme zarte Mutter gequält habe in jenen letzten Wochen und ob diese Hände da vor ihr sie alsdann treulich gestützt hätten, so wäre ihr das viel wichtiger gewesen als alle Wunder der Gnade, von denen sie mit beklemmender Ehrfurcht erfuhr. Und wie würde sie die gelähmten Hände dort dafür verehrt und geliebt haben! Sie merkte aber, sie müsse sich bescheiden. Magdalena war, sogar Polyxenens ungeübtem Blicke blieb dies nicht verborgen, auf der Reise begriffen, von der niemand wiederkehrt. Ihr blieb wohl nur noch kurze Frist; kein Wunder, daß vor ihren Augen zusammenschrumpfte, was irdisch war, und nur das, was sie als bleibend erkannt hatte, noch vorhanden schien.

Nach einem Dinge aber zu fragen, war das Fräulein entschlossen, wenn sie auch davor zurückscheute, wie vor der Berührung einer schmerzenden Stelle. Und so sagte sie denn, mit leicht bebender aber doch klarer Stimme: „Wollet mir eins nicht verhehlen: warum hat meine Mutter dieses Buch nicht meinem Vater hinterlassen?“

Hätte die kranke Frau jetzt erwidert: weil er desselben nicht würdig war, oder ähnliches, so würde sich Polyxene, leicht scheu gemacht, wie sie in ihrem spröden Wesen war, innerlich von ihr abgewendet haben. Aber so sprach auch die Kranke nicht. Sie las mit ihrem schon fast überirdischen Scharfblick vom Gesicht des Fräuleins eine gewisse Furcht und zugleich den sehnsüchtigen Wunsch, sich die beiden lange verstorbenen Eltern einig denken zu dürfen. Und sie sagte: „Eueren Vater nannten alle, die ihn kannten, einen biederen Edelmann, und sie thaten nicht unrecht daran. Euere Mutter ist von hinnen gegangen des fröhlichen Glaubens, es werde ihr selber vergönnt sein, Gottes Werk noch nach der Zeitlichkeit an ihm vollenden zu dürfen. Hier schien sie wenig Macht über ihn zu haben, ob er sie gleich lieb hatte. Bitterlich hat er um sie geweint, als sie starb. Und da er sich einsam fühlte – denn Ihr waret noch ein kleines Kind – suchte er nun erst recht seine alleinige Lust auf der Jagd, der er immer nur allzusehr zugethan gewesen war. Jagen und Zechen ... es mußte scheinen, als bliebe ihm keine Zeit und kein Ohr, des Herrn Stimme zu vernehmen, die da leise spricht. Dieses Buches, hätte er es besessen, hätte er nicht geachtet, oder er hätte sich vielleicht daran geärgert. Ich war noch im Hause nach dem Hinscheiden Euerer Mutter; mir war die Sorge für Leinen und Geräth anvertraut. In meiner Thorheit und dem Stolze meiner Unerfahrenheit – denn des Herrn Arbeit hatte noch kaum an mir begonnen – hielt ich damals Eueren Vater für verloren. Euere Mutter hat es besser gewußt. Und sie gab mir ein Zeichen, das meinen Hochmuth strafte. Mir war im Traume, als sollten wir, Euer Vater und ich, Aepfel zusammen brechen von einem Baume im Garten, für eines großen Königs Tisch. Ich, jung und behende, dachte, das sollte mir leicht werden. Aber so sehr ich mich mühte, keine Frucht konnte ich erreichen. Und dann gewahrte ich, weshalb nicht. Euere Mutter war da zwischen den Zweigen, wie ein Vogel, und den Ast, nach welchem ich griff, den bog sie von mir hinweg und Euerem Vater zu, so daß ihm die goldgelben und rothen Aepfel in die Hand rollten. Und darauf sah ich ein anderes noch. Sie lächelte ihm, der sie anblickte, freundlich und lieblich zu, neigte sich und küßte ihn, aber nicht auf den Mund, was mich wunder nahm; nein, auf das Herz küßte sie ihn. Diesen Traum, den mir der Herr gesandt hatte, bewegte ich hin und her in meinem Sinn und verstand ihn nicht.

Zwei Tage darauf brachten sie Eueren Vater tot von der Jagd nach Hause. Ich war im Gemach, als sie ihn entkleideten; ich trug die frischen Laken herbei für das letzte Lager. Mit bitteren Thränen that ich das. Denn der kräftige Mann jammerte mich, und noch viel mehr jammerte mich seine Seele. Dachte ich doch nicht anders, als die müsse ewig verloren sein, da er so rasch dahin gefahren war! Da sah ich in seiner linken Brust die rothe

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_266.jpg&oldid=- (Version vom 12.10.2020)