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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Idee sprechen. Sie ist in aller Kürze folgende: ich möchte ein Bild der Verwüstung geben, welche der Milliardenunsegen in ökonomischer und sittlicher Beziehung über Deutschland gebracht hat. Den Verlauf, welchen diese Dinge genommen, habe ich aufs eifrigste studiert aus den Zeitungen und Broschüren, die aber nicht so wichtig waren wie die Mittheilungen meiner Freunde – Finanzleute, Industrielle, Politiker, die mitten in dem Getriebe stehen und auf deren Aussagen und Urtheil ich mich verlassen darf. Als Eduard Lasker, dem ich, wie Sie wissen, sehr nahe stehe, am 12. Mai im Reichstag seine prachtvolle Rede gegen den Gründungsschwindel gehalten hatte, wollte ich ihn zum Helden meines Romans machen, aber ich stand bald wieder davon ab: ein Romanheld darf nicht zu aktiv sein, nicht an der Spitze der Phalanx marschieren; er absorbiert sonst alles Interesse, und für die anderen, die man auch gern auf den Plan bringen möchte und bringen muß, soll man sich in die nöthige epische Breite entfalten können, bleibt nichts oder nicht genug übrig. Auch sah ich, mit Lasker als Helden, keine Möglichkeit, die Sturmfluth vom Herbste 1872 in meinen Plan zu ziehen; und davon konnte ich nicht lassen; das war bei mir zur fixen Idee geworden: der Zusammenkrach des Gründungsschwindels und die verheerende Fluth in einen Zusammenhang zu bringen, trotzdem sie schlechterdings nichts miteinander zu thun haben, ja selbst der Zeit nach mindestens ein halbes Jahr auseinanderliegen. Und durch Laskers Rede, die, wie Sie sich erinnern, eine specifisch pommersch-rügensche Gründung zum Gegenstand hat, bin ich vollends in meinem Vorhaben bestärkt: Pommern-Rügen, der Schauplatz der Sturmfluth, muß auch der Schauplatz meines Romans und ‚Sturmfluth‘ muß sein Titel sein.

Aber soweit, oder ungefähr soweit war ich bereits gestern und würde heute noch nicht weiter sein, wäre, nachdem Sie mich gestern nachmittag verlassen, er nicht gekommen.“

„Wer?“

„Mein Held!“

„Der Herr, mit dem Sie hier, wie ich höre, eine so wenig kurgemäße Sitzung gehabt haben?“

„Derselbe – und der mir die Geschichte seines Lebens in großen Zügen erzählt hat, von der das für mich Wichtige und Entscheidende dies ist:[1] Reinhold Schmidt –Pardon! in Wirklichkeit heißt er Friedrich Müller – hatte als Kauffahrerkapitän in einer preußischen Ostseestadt die Bekanntschaft der Familie eines hochstehenden Offiziers gemacht und eine leidenschaftliche Liebe zu der schönen Tochter des Hauses gefaßt. Indessen stellten sich der Vereinigung des liebenden Paares Hindernisse entgegen, die er mir nicht näher bezeichnet hat. Es mußte vor der Hand geschieden sein. Das war kurz vor dem Jahre 1870. Im Juli dieses Jahres lag Müller mit seinem Schiffe im Hafen von Cardiff, im Begriff, eine lange Fahrt nach einem überseeischen Lande anzutreten. Da erreicht ihn die Nachricht vom Ausbruch des Krieges. Er wartet nicht auf seine Stellungsordre, giebt sein Kommando in die Hände der Reeder zurück, eilt, so schnell er kann, in die Heimath, meldet sich bei seinem Regiment, macht ein halbes Dutzend der Hauptschlachten mit, erkämpft sich das Eiserne Kreuz und den Offiziersrang, schließlich auch die Geliebte, die der Vater jetzt willig den Händen eines Mannes anvertraut, von dessen Tapferkeit er sich während des Feldzugs mit eigenen Augen überzeugt hat.“

„Das ist alles?“ fragte die schöne Frau verwundert.

„Das ist alles!“ rief ich begeistert, „wenigstens alles, was ich brauchte: der feste Punkt, auf dem stehend ich die Welt, an der mir liegt, aus den Angeln hebe. Gestern lächelten Sie ungläubig, als ich Ihnen die Tugenden eines Helden für den Roman aufzählte; jetzt kann ich Sie überzeugen – überzeugen von der Kraft, die der Held ausstrahlt, so mächtig, daß, was gestern im besten Falle Schemen waren, heute Menschen von Fleisch und Blut sind. Und damit ist schon viel zu viel gesagt: sie sind, weil er ist. Weil er ist – lachen Sie nicht! – ist sie da, sein geliebtes Mädchen, dem selbstverständlich die Ehre der Mitregentschaft im Roman zufällt. Das holde Wesen führt mir ihren Vater, den General, zu; außerdem ihren Bruder – er heißt Ottomar, ist Offizier und liebt Ferdinanden, Onkel Schmidts geniale Tochter. Wer Onkel Schmidt ist? Aber, gnädige Frau, Reinhold, mein Held, kann doch nicht allein in der Welt stehen. Einen Vater hat er sich verbeten; der würde seine Selbständigkeit zu sehr drücken; er zieht also einen Onkel vor. Wenn General von Werben – so heißt er – arm ist – denken Sie an die Hindernisse, die sich der Vereinigung der Liebenden in der wahren Geschichte entgegenstellten! – so ist Onkel Schmidt desto reicher; aber noch nicht so reich wie sein Sohn Philipp, Ferdinandens Bruder, in welchem ich die Ehre habe, Ihnen den ersten Gründer in meinem Roman vom Gründungskrach zu präsentieren: den bürgerlichen Gründer. Einen vom Adel – und der dem bürgerlichen an Verwegenheit noch über ist – hätte ich schon erwähnen sollen: er tritt, soviel ich weiß, wenn nicht im ersten, so doch in einem der ersten Kapitel auf. Es ist Graf Golm. Sie kennen den Grafen Golm nicht? Aber, Sie sagten mir doch neulich, Sie hätten Laskers Rede – aber freilich, bei Lasker heißt er anders. Namen thun ja nichts zur Sache, und die Sache ist, daß Graf Golm für die von ihm und Genossen im Interesse ihrer Güter projektierte pommersch-rügensche Eisenbahn die Subvention des Staates haben will und haben muß, soll über die hochgeborene Clique nicht der schmählichste Bankerott hereinbrechen. Der General von Werben ist gegen das Projekt, vor allem gegen die Anlage eines Kriegshafens, in welchem die Bahn auslaufen wird, auf Golmschem Grund und Boden an der Ostküste Rügens, eben der, welche dem ersten Anprall einer Sturmfluth, wenn sie kommt, ausgesetzt ist. Und Reinhold Schmidt ist überzeugt, daß sie kommen wird. Sollte er da nicht gegen das Schwindelprojekt sein und sich dadurch die bittere Feindschaft des Grafen Golm um so sicherer zuziehen, als dieser auch sein Nebenbuhler in der Bewerbung um die Gunst der schönen Generalstochter ist?“

Und so erzählte ich der erstaunten schönen Frau beinahe den ganzen Roman. Nicht, wie er heute dem Leser als Buch vorliegt! Zwischen einem Romanplan, wäre er dem Dichter noch so deutlich, und seiner Ausführung schwebt noch gar viel! Da sind Ströme zu überbrücken, Abgründe auszufüllen, Berge abzutragen, an die man nicht gedacht, von denen man sich nicht hat träumen lassen. Das kostet unsägliche Geduld, erfordert eine nicht zu brechende Energie. Aber Geduld und Energie sind Tugenden, die man sich anerziehen kann und der Romandichter sich anerziehen muß, oder er mag das Metier nur aufgeben. Und die Ausübung dieser Tugenden wird ihm nicht allzu schwer werden, so er nur seinen Helden hat. Dann darf er sich versichert halten, daß er an dessen starker Hand zum Ziele gelangen wird, mag der Weg auch noch so lang und beschwerlich sein.

„Glauben Sie nicht, gnädige Frau?“

„Weshalb sollte ich es nicht glauben, da Sie es mich versichern, der Sie schon soviel Erfahrung in diesen Dingen haben. Und so wünsche ich Ihnen denn von ganzem Herzen Glück und Segen zu Ihrem Werke.“

Der Wunsch der gütigen Freundin ist in Erfüllung gegangen, ich habe an der „Sturmfluth“ viel Freude erlebt, die nur durch eines getrübt ist: daß ich dem Manne, dem ich für das Zustandekommen des Werkes soviel, ich möchte sagen alles, verdanke, im Leben nicht noch einmal habe die Hand drücken dürfen.





  1. Wenn der folgende kurze Bericht mit einem längeren, welcher vor einigen Monaten unter dem Titel „Ein Held in Leben und Dichtung“ seinen Weg durch die Zeitungen gemacht hat, ziemlich wörtlich übereinstimmt, so braucht man mich nicht des Plagiats zu beschuldigen. Jener Zeitungsartikel hat zum Verfasser einen meiner jüngeren litterarischen Freunde, welcher mich gebeten hatte, ihm meine Beziehungen zu Friedrich Müller, der am Neujahrstag dieses Jahres zu Swinemünde gestorben war, mitzutheilen behufs eines Nekrologes, mit dem er den Dahingeschiedenen zu ehren gedachte. Er hat von meiner ihm gern ertheilten Erlaubniß, sich des Inhalts meines Briefes nach Gutdünken bedienen zu dürfen, den entsprechenden Gebrauch gemacht, und ich habe ihn nur um Entschuldigung zu bitten, wenn ich zum Zwecke dieses für die „Gartenlaube“ bestimmten Aufsatzes das ihm Anvertraute nachträglich doch auch wieder für mich verwerthen muß. Ueberdies enthält seine Darstellung verschiedene Berichtigungen der meinigen, wie ich ihm auch für die Mittheilung mancher Daten aus dem Leben Friedrich Müllers, die mir entfallen oder unbekannt geblieben waren, zu Dank verpflichtet bin; so: daß er 1835 in Luckau als Sohn eines königlichen Forstmeisters geboren wurde, das Gymnasium seiner Vaterstadt besuchte und als Einjähriger bei den Lübbener Jägern seiner Wehrpflicht genügte, bevor er sich dem Seemannsberufe widmete. Weiter: daß unser Kronprinz selbst es gewesen ist, der ihm nach der Schlacht von Wörth das Eiserne Kreuz überreichte; daß ihm für seine bei der Bergung der Mannschaft einer Bark am 5. Dezember 1875 bewiesene Aufopferung die Rettungsmedaille am Bande verliehen wurde; schließlich, daß seine Versetzung von Thiessow nach Swinemünde am 1. Januar 1885 erfolgte, an welchem Orte er denn auch gestorben ist.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_271.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)