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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Aus den Dolomiten.

Mit Abbildungen nach Originalaufnahmen von Th. Wundt.

Wenn von Dolomiten die Rede ist, so denkt fast jedermann unwillkürlich an das berühmte Ampezzaner Gebiet; dorthin wälzt sich alljährlich, begünstigt durch den bequemen Zutritt mittels der Pusterthalbahn, der Hauptstrom des Fremdenverkehrs, während er vorerst nur schwache Arme nach den südlicher gelegenen Gegenden, nach der an großartiger Schönheit keineswegs ärmeren Pala- oder Primörgruppe, entsendet. Allerdings führt der Weg zu diesen Paradiesen für alle, die ihn nicht im eigens gemieteten Landauer, oder mit dem Bergstock in der Faust, den Rucksack auf dem Rücken, zu Fuß zu durchwandern aufgelegt oder befähigt sind, durch das Fegfeuer einer vielstündigen Postfahrt, die man entweder von Neumarkt, der dritten Station der von Bozen nach Trient führenden Eisenbahnlinie, oder von Trient selbst aus antritt. Der letztere durch das Val Sugana führende Weg ist der umständlichere und steht auch an landschaftlicher Schönheit hinter jenem zurück, der von Neumarkt seinen Ausgang nimmt. Auf gut gehaltener Straße führt dieser durch das Fleimser und Travignolothal über Cavalese und das geognostisch interessante Predazzo nach Paneveggio und dem im Mittelpunkt dieser herrlichen Gebirgswelt gelegenen San Martino di Castrozza, er wird daher auch von den aus dem Norden kommenden Reisenden zumeist eingeschlagen. Schon während man sich, durch das Thal des Travignolo ansteigend, dem in ernster Waldabgeschiedenheit trotz seines eben 1m Entstehen begriffenen Bergforts friedlich daliegenden Paneveggio nähert, wird man sich mit Vergnügen eines Vorzugs bewußt, der diese Gegend vor vielen anderen Tirols auszeichnet, ja in dieser Höhe geradezu als ein Unikum zu bezeichnen ist. Ein herrlicher, von der Axt des Holzfällers noch wenig berührter Hochwald begleitet uns auf unserem Wege längs des rauschenden Wildbachs und scheint an Fülle und Kraft noch zu wachsen, wenn wir über den Rollepaß hinüber ins Thal des Cismone, das Val di Primiero oder Primörthal, wandern. Als Wegweiser dienen uns die in einsamer Größe gespensterhaft, thurmartig über den Tannenwipfeln aufragenden Häupter des Cimone della Pala (3186 m) und der Cima di Vezzana (3191 m), die ersten Vorboten jener gewaltigen wildzerrissenen Gebirgskette, die wir von der Paßhöhe aus in ihrer überwältigenden Gesamtheit überschauen. Und an den bewaldeten Fuß dieser Riesen fast zärtlich angeschmiegt, liegt in dem sich erweiternden Thal, in das von Süden der Monte Pavione mit seiner pyramidenartig abgestumpften Spitze hereingrüßt, zwischen üppig blühenden Matten, unter einem Himmel voll südlicher Bläue jene kleine Häusergruppe, von einem bescheidenen Kirchthurm überragt, die den stolzen Namen San Martino di Castrozza führt.

Der Cimone della Pala vom Rollepaß aus.

Der Hauptreiz der Lage dieses gleich Paneveggio und dem westlich vom Etschthal gelegenen Madonna di Campiglio aus einem ehemaligen geistlichen Hospiz hervorgegangenen Luftkurorts besteht eben in dem Gegensatz, den die großartigen Formen jener unwirthlichen, von Schlünden und Klüften durchfressenen Gebirgswelt mit den lachenden blühenden Triften im Thal bilden, sein hygieinischer Werth in der durch das italienische Klima gemilderten Hochluft.

„Es ragt der hohe Elborus,
So weit der Himmel reicht,
Der Frühling blüht an seinem Fuß,
Sein Haupt ist schneegebleicht.“

Dieses Bild des Dichters der Mirza-Schaffylieder, es ließe sich auch auf die Pala di San Martino und ihre wilden Genossen, Rosetta, Cimon di Ball, den Saß Maor und wie sie sonst heißen, anwenden, wenn diese vielgezackten Felszinnen nicht zu spitz und steil aufragten, um dem Schnee, der sich in die Falten ihres Mantels verkriecht, irgend einen Haftpunkt auf ihrem Haupt darzubieten. In den Frühling aber, der an ihrem Fuß und zwar immer noch, in der recht stattlichen Meereshöhe von nahezu 1500 Metern blüht, weht schon ein Hauch aus dem Lande der Citronen herein, das dort jenseit des Pavione, von dessen Gipfel man die Wogen der Adria schimmern sieht, seine seligen Gefilde ausbreitet. Um übrigens italienisches Volksleben so echt, wie man es etwa im Apennin und in den Abruzzen findet, kennenzulernen, braucht man sich gar nicht einmal aus dem Machtbereich des Doppeladlers hinauszubegeben, es genügt ein Gang öder eine Fährt nach dem nur einige Stunden entfernten Primiero, dem Hauptort des nach ihm benannten Thals. An herrlichen Spaziergängen, an schattigen Ruheplätzen in Wald und Wiese, die man fast ohne Steigung erreichen kann, ist die nächste Umgebung von San Martino reich, wie es auch den Ausgangspunkt für die kühnsten Kletterpartien in den Dolomiten bildet. Denn so wild und unnahbar sie auch in das Thal hernieder dräuen, die düsteren Riesen der Pala, es ist keiner unter ihnen, den nicht des Menschen Fuß schon betreten hätte, und einige von ihnen haben sich sogar die Taufe auf die Namen ihrer Ueberwinder gefallen lassen müssen.

Die Gasthöfe von San Martino.

In neuerer Zeit hat niemand so viel zur Verherrlichung dieses Theils der Dolomiten beigetragen als der deutsche Hauptmann Theodor Wundt. Ausgerüstet mit allen körperlichen und seelischen Eigenschaften, deren der Freund gefährlicher Bergtouren bedarf, außerdem aber auch mit einem photographischen Apparat, hat er die Wände, Zacken und Schründe der Pala-Gruppe nach allen Seiten durchwandert, ihre grausigen und ihre lieblichen Schönheiten mit dem Auge des Künstlers, des Naturfreundes und des Sportsman gesucht und genossen und schließlich seine Eindrücke und Erfahrungen in einer glänzenden Schilderung zusammengefaßt, für welche zwei Besteigungen des Cimone della Pala, dieses „Matterhorns der Dolomiten“, den Mittelpunkt abgaben. Es liegt uns durchaus fern, dem so vielfach zu Auswüchsen und Verirrungen neigenden Bergsport das Wort zu reden. Aber was wir hier in dem Werke von Wundt (erschienen bei Greiner und Pfeister in Stuttgart) sehen und lesen, muß auch dem grundsätzlichen Gegner trotz aller Einwendungen, die er zu machen hätte, ein Wort der Bewunderung abnöthigen.

Der Cimone della Pala galt lange als unersteiglich, bis es im Jahre 1870 dem kühnen Engländer Whitwell gelang, vom Travignolothal aus, also von Norden her, die Spitze zu erreichen. Aber der Anstieg auf dieser Seite blieb wegen der starken Verwitterung des Gesteins immer ein großes Wagniß, das verhältnißmäßig nur selten, darunter allerdings einmal auch von einer Dame, unternommen wurde. Anders gestaltete sich die Sache, als im Jahre 1889 Dr. Darmstädter einen schon früher vergeblich gesuchten Weg von der Südostseite her fand; er war an sich schwieriger als der alte, verlangte mehr Kletterarbeit, war aber wegen der Festigkeit des Gesteins und

der Sicherheit vor Steinschlägen dennoch gefahrloser als jener. An der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_285.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2021)