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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

einzige Wissende. Aber er ging blindlings in das aufgestellte Netz. Doch beruhige Dich! Jetzt, wo ich weiß, wie nahe seine Schwester Deinem Herzen steht, jetzt werden jene Rücksichten fallen.“

„Ja, Maja muß geschützt werden vor diesem Manne, koste es, was es wolle!“ rief Viktor stürmisch. „Onkel, ich habe Dir nichts verhehlt, jetzt sei auch Du offen gegen mich! Wer und was ist dieser Wildenrod?“

„Du sollst es erfahren,“ sagte Stetten ernst. „Aber hier im Walde können wir solche Dinge nicht erörtern. In zehn Minuten sind wir im Schlosse, dort laß uns weiter von der Sache reden.“




Maja und ihre Begleiterin waren inzwischen weiter gefahren. Sie wollten nach der Bahnstation, Frau von Ringstedt abzuholen, die sich nach Berlin begeben hatte, um in dem dortigen Wohnsitz der Familie die Anstalten für einen Winteraufenthalt zu treffen. Dernburgs Wiederwahl war mit einer solchen Bestimmtheit erwartet worden, daß man auch bei den häuslichen Anordnungen darauf Bedacht genommen hatte. Jetzt war der ganze Berliner Aufenthalt in Frage gestellt, und die alte Dame kehrte vorläufig nach Odensberg zurück.

„Was war das nur heute mit dem Grafen Viktor?“ sagte Maja nachdenklich. „Er gab sich ganz anders als sonst und schien nicht einmal über unser Wiedersehen erfreut zu sein.“

„Er ist noch in der ersten Trauer um den Bruder,“ warf Leonie ein. „Da ist es nur natürlich, wenn er sich ernster und gehaltener zeigt als sonst.“

Maja schüttelte das Köpfchen, die Erklärung wollte ihr nicht einleuchten. „Nein, nein – es war etwas anderes. Viktor ist auch damals im Frühjahr ohne Abschied fortgegangen! Papa sagte zwar, er sei in dienstlichen Angelegenheiten ganz plötzlich abberufen worden, aber dann hätte er doch schreiben können. Und als ich ihn jetzt einlud, nach Odensberg zu kommen, sah er aus, als hätte er gar keine Lust dazu. Was soll das alles bedeuten?“

„Mir ist die Zurückhaltung des Grafen auch aufgefallen,“ sagte Leonie, „und eben deshalb hätten Sie ihm nicht mit einer solchen Vertraulichkeit entgegenkommen dürfen, Maja. Sie sind jetzt eine erwachsene Dame und dürfen sich den Gutsnachbarn gegenüber nicht mehr die Freiheiten eines Kindes erlauben.“

„Viktor ist kein bloßer Gutsnachbar!“ rief das junge Mädchen ärgerlich. „Er ist als Knabe beinahe ebenso in Odensberg zu Hause gewesen wie in Eckardstein. Es ist garstig von ihm, jetzt auf einmal so fremd und förmlich zu thun, und das werde ich ihm auch sagen, wenn er zu uns kommt. O, ich werde ihm schon den Text lesen!“

Fräulein Friedberg nahm eine zurechtweisende Miene an und verbreitete sich noch einmal sehr ausführlich über die Rücksichten, welche eine erwachsene Dame zu nehmen habe, aber sie predigte tauben Ohren. Maja träumte mit offenen Augen vor sich hin; sie sah noch immer den düsteren vorwurfsvollen Blick des Jugendgespielen, und wenn sie auch weit entfernt war, den Grund seines veränderten Wesens zu ahnen, seine Zurückhaltung that ihr doch weh, Sie fühlte erst jetzt wie lieb Viktor ihr war.

Am Bahnhofe empfing Doktor Hagenbach die beiden Damen mit unerfreulichen Nachrichten. Er hatte in der Stadt von einem Eisenbahnunfall gehört, der sich im Laufe des Vormittags ereignet haben sollte. Da er wußte, daß Frau von Ringstedt unterwegs war, so hatte er schleunigst Erkundigungen eingezogen, die zum Glück beruhigend lautete. Infolge der letzten Regengüsse hatte ein Dammrutsch stattgefunden, das Geleise war auf eine größere Strecke gesperrt, man mußte die Züge halten und die Fahrgäste umsteigen lassen – der Berliner Schnellzug konnte daher nur mit namhafter Verspätung eintreffen; ein Unfall aber bei dem Zuge selbst war nicht vorgekommen.

Auf diese Mittheilung hin blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Da sich jedoch auf dem Bahnhof eine größere Truppenabtheilung befand, die vom Manöver zurückkehrte und ihre Weiterbeförderung erwartete, so waren sämtliche Räume überfüllt, die Wartezimmer fast gänzlich von den Offizieren in Beschlag genommen, und überall herrschte ein lärmendes Treiben, das einen längeren Aufenthalt für Damen sehr unangenehm machte. Der Doktor rieth deshalb, nach dem „Goldenen Lamm“ hinüberzugehen, sich ein Zimmer geben zu lassen und dort die Ankunft des Zuges abzuwarten. Der Vorschlag wurde angenommen, und da Herr Willmann gerade nicht zu Hause war, so wurden die Gäste von seiner Ehegattin empfangen, die auf die Nachricht hin, daß die Odensberger Herrschaften das „Goldene Lamm“ mit ihrer Gegenwart beehrte, was bisher noch niemals geschehen war, aus der Küche herbeigestürzt kam, um dieser Ehre pflichtschuldigst Rechnung zu tragen.

Die Vorzüge der Frau Willmann mochten wohl nach der wirthschaftlichen Seite hin liegen, in ihrer Erscheinung traten jedenfalls keine hervor. Sie war bedeutend älter als ihr Mann, mit einem abstoßenden Aeußeren und einer lauten scharfen Stimme begabt, die ihren Worten etwas Keifendes verlieh. Und die Hauskleidung, in der sie ihre Gäste empfing, ließ an Geschmack wie an Sauberkeit sehr viel zu wünschen übrig.

Sie öffnete schleunigst das beste Gastzimmer, riß ein Fenster auf, um frische Luft hereinzulassen, schob Tisch und Stühle zurecht und versicherte den Herrschaften, daß sie ihnen in der allerkürzesten Zeit den allervortrefflichsten Kaffee vorsetzen würde. Dann verschwand sie schleunigst, ganz Eifer und Dienstfertigkeit.

Nach Aussage des Bahnbeamten hatte man mindestes noch eine Stunde auf den Berliner Zug zu warten. Fräulein Maja fand das sehr langweilig; sie bekam Lust, eine Entdeckungsreise im „Goldenen Lamm“ anzustellen, und als sie vollends durch das Fenster eine Kinderschar gewahrte, die in dem Gärtchen an der Rückseite des Hauses spielte, da war es vorbei mit ihrer Fähigkeit, stillzusitzen. Sie schlüpfte, trotz aller Vorstellungen ihrer Erzieherin, aus dem Zimmer und überließ die anderen sich selber.

Einige Minuten lang herrschte ein verlegenes Schweigen. Der Doktor und Fräulein Friedberg hatten zwar längst eine stille Uebereinkunft geschlossen, jenen verunglückten Heirathsantrag als nicht geschehen zu betrachten. Es war die einzige Möglichkeit, bei dem beinahe täglichen Verkehr, zu dem sie gezwungen waren, die nöthige Unbefangenheit zu bewahren, aber im einzelnen sah es mit dieser Unbefangenheit doch recht mißlich aus. Hagenbach konnte es nicht lassen, seinem Groll über den Korb, den er erhalten hatte, in allerlei versteckten Andeutungen Luft zu machen, und Leonie befand sich ihm gegenüber fortwährend im Vertheidigungszustand. Trotz dieses unerquicklichen Verhältnisses aber war es eine Thatsache, daß der Herr Doktor viel mehr Sorgfalt auf seine äußere Erscheinung verwendete als früher und sich auch bemühte, seiner Derbheit soviel wie möglich Zügel anzulegen. Das letztere gelang ihm zwar nur in sehr bescheidenem Maße, doch zeigte er wenigstens den guten Willen dazu.

„Maja ist nicht zu berechnen!“ begann Fräulein Friedberg endlich mit einem Seufzer. „Ich bin wirklich bisweilen in Verzweiflung. Was soll man mit einer jungen Dame anfangen, die bereits Braut ist und noch immer nicht die Nothwendigkeit einsehen will, daß man sich den gesellschaftlichen Formen zu beugen hat!“

„Nun, über diese Nothwendigkeit ließe sich streiten,“ warf Hagenbach ärgerlich hin.

„Nein, darüber läßt sich nicht streiten,“ war die sehr entschiedene Antwort. „Das ist die Grundlage, auf der die ganze Geselligkeit beruht.“

„Jawohl, die Formen!“ spottete Hagenbach mit unverhohlener Gereiztheit, „die sind die Hauptsache in der Welt! Was kommt’s auch darauf an, ob ein Mann ehrlich, tüchtig, gediegen ist – er muß dem ersten besten Gecken weichen, der es versteht, Verbeugungen zu machen und Redensarten zu drechseln – der hat natürlich den Vortritt!“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Aber gemeint! Ich habe mich mein Lebtag nicht viel mit den Formen abgegeben, habe es auch in meiner Praxis nicht nöthig gehabt und in meiner Häuslichkeit erst recht nicht. Bin ich doch noch Junggeselle – Gott sei Dank!“

Der Doktor stattete dem Himmel seinen Dank ob des glücklich bewahrten Junggesellenthums in einem so grimmigen Tone ab, daß Leonie es vorzog, gar nicht zu antworten. Sie trat ans Fester und blickte hinaus. Zum Glück erschien jetzt eine der Mägde mit den Kaffeetassen und einem riesigen Kuchen, der für mindestes zehn Personen ausreichte, und meldete, die Herrschaften möchten sich nur noch eine kleine Weile gedulden, Frau Willmann bereite den Kaffee selbst.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 303. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_303.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)