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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

ein, und im März des Jahres 1849 brachen abermals 250 Seelen von New-Orleans auf, um im jetzigen Staate Illinois am mittleren Mississippi ihr Glück zu versuchen. Hier in einer früheren Mormonenniederlassung trat die neue Kolonie ins Leben und die Leute kamen wirklich, wenn auch unter großen Schwierigkeiten, vorwärts. Cabet selbst jedoch, welcher durch zurückgekehrte Mitglieder der ersten Expedition in seinem Vaterland des Schwindels angeklagt worden war, reiste nach Frankreich zurück, wo er 1851 seine Freisprechung erwirkte. Als er in seine Gründung zurückkehrte, war der Geist der Zwietracht in ihr ausgebrochen; Cabet wurde selbst von den Kolonisten verläugnet und starb bald darauf in St. Louis (1856). Ein Rest dieser Unternehmung ist heute noch übrig, das kleine Dorf Ikaria in Adams County im Staate Yowa.

Es ist merkwürdig, daß Fourier stets jeden Zusammenhang mit den Männern der Revolution ablehnte; seine Theorie, so versicherte er mit Entrüstung, habe nichts zu thun mit den Umsturzgelüsten der Jakobiner, sie sei vielmehr in hervorragendem Sinne friedliebend und Frieden bringend. Das ist wahr. Aber in einem Punkte theilte er doch, wie das naturnothwendig ist, durchaus die Vorurtheile jener Männer und jener Zeit. Er, und mit ihm Cabet, hatte keine richtige Einsicht in das Wesen der Entwicklung. Beide, besonders aber Fourier, wähnten, daß die menschliche Gesellschaft ebenso mechanisch sich konstruieren lasse wie etwa leblose Körper, lediglich vermittelst einiger allgemeiner Formeln. Das Irrige dieser Anschauung hat sogar August Bebel eingesehen, welcher die vielfach verkannte und manchmal absichtlich entstellte Gestalt Fouriers in einem besonderen Buche vorgeführt hat. Er sagt: „Jeder solche Versuch“ – wie Fourier ihn ersehnte – „ist ein Zeichen geistiger Unreife, die nur die Wirkung haben kann, Enttäuschungen hervorzurufen. Der große Fortschritt unseres Zeitalters ist, daß die Utopisten ausgestorben oder im Aussterben begriffen sind; in der Masse fanden sie nie Boden, sie finden ihn heute weniger als je. Auch der einfachste Arbeiter fühlt, daß sich künstlich nichts schaffen läßt, daß das, was werden soll, sich entwickeln muß, und zwar mit dem Ganzen und durch das Ganze, nicht getrennt und isoliert von ihm.“

Wie Charles Fourier in Frankreich, so steht Robert Owen in England auf der Schwelle der neuen Zeit, mitten inne zwischen Utopie und Wissenschaft. Von ihm in einem weiteren Artikel!




Ferienheime für Kinder.

Hochsommer ist’s. Eine schwere, träge Gluthhitze lagert über den hohen Häusern, den engen Höfen und den spärlichen Gärtchen der inneren Stadt. Müde und verdrossen kauern die Kinder in schmztzigen Winkeln, sie athmen die dunstige Luft, sie schlucken den dicken Staub, der sich in der Atmosphäre aufgesammelt hat, und ihre Wangen, auf denen ohnedies schon schlechte Ernährung und mangelhafte Reinlichkeit geschrieben stehen, sind noch bleicher und eingefallener als sonst. Tag um Tag verlungern sie so in der ungesundesten Umgebung – denn es sind Ferien, die Schulen haben sich geschlossen, und die Eltern dieser Kinder haben keine Zeit und kein Geld, ihnen die Ferien durch freundliche Theilnahme zu vergolden. Von den geistigen Anstrengungen des Lernens mögen diese Kinder sich vielleicht erholen, sofern sie dessen überhaupt bedürfen; von den üblen Folgen der Großstadtluft, der Enge und Feuchte ihrer Wohnung, der ganzen Kümmerlichkeit ihres Daseins erholen sie sich nicht – und dessen bedürfen sie gewiß.

In dieses Elend tönte vor nunmehr bald zwei Jahrzehnten das erlösende Wort herein: Ferienkolonien! Der Schweizer Pfarrer Bion war es, der zuerst 1876 eine Anzahl Züricher Stadtkinder hnlausführte in die würzige Luft des Kantons Appenzell, damit sie dort neue Lebenskraft schöpfen könnten. Seitdem sammeln sich alljährlich, wenn die Ferien in den Volksschulen begonnen haben, auf gar vielen städtischen Bähnhöfen große Gruppen kleiner Leute, dort Knaben, hier Mädchen, von Lehrer oder Lehrerin überwacht, ein jedes Kind mit einem Päckchen „Nothwendigstem“ unter dem Arm. Auch einige Herren, anscheinend aus den wohlhabenden Ständen, bewegen sich unter den erwartungsvollen Scharen, Mitglieder der Komites, die sich gebildet haben, um die Mittel für die Aussendung dieser Kolonien aufzubringen. Und bald führt der Bahnzug die Glücklichen einem bescheidenen Landort entgegen, wo sie bei einfacher guter Kost sich der mühelosen aber nichtsdestoweniger nothwendigen Arbeit des Luftschnappens mit Hingebung zu widmen haben.

Das Ernst Wagner-Haus zu Grünhaide im Sächsischen Vogtlande.
Zeichnung von R. Püttner.

Diese Ferienkolonien oder „Sommerpflegen“, wie man sie auch genannt hat, gehören zu den erfreulichsten Erscheinungen in der praktischen Wohlthätigkeit der Gegenwart, und sie haben eine Ausdehnung angenommen, die dem Gemeinsinn un[s]erer großstädtischen Bürger alle Ehre macht, wenn auch noch nicht alle Wünsche befriedigt werden können und manches bleiche Geschöpfchen von dem entscheidenden Schul- oder Komitevorstand mit schwerem Herzen auf „ein andermal“ vertröstet werden muß. Während in Deutschland 1878 zwei Städte 151 Kinder aussandten, waren es im Jahre 1890 nicht weniger als 20 586 Kinder, die von 115 Städten in die Ferienkolonien geschickt wurden. Nimmt man die Kinder hinzu, die nicht durch freiwillige Vereinigungen, sondern durch Stadtbehörden u. dergl. in See- oder Soolbäder gesandt wurden, so stellt sich die Zahl der Pfleglinge in dem letztgenannten Jahre auf nahezu 26 000. Die erforderlichen Mittel für die von Vereinen ausgesandten Kinder sind durchgehends durch freiwillige Leistungen aufgebracht worden. Sie betrugen im Jahre 1886 rund 300 000 Mark, 1890 schon 446 000 Mark. Außer diesen unmittelbar verwendeten Summen haben aber auch viele Vereine theils aus ihren regelmäßigen Beiträgen theils aus besonderen Stiftungen eigene Vermögen begründet, deren Gesamtbetrag im Jahre 1890 sich bereits auf 3 157 380 Mark belief.

Die üblichste Art und Weise, unsere Kolonisten unterzubringen, ist bis jetzt noch die, daß kleine Trüppchen von 12 bis 25 Kindern unter Führung eines Lehrers oder einer Lehrerin sich in einem geeignet gelegenen Landort bei einem guten Wirthe einquartieren, welcher die Verpflegllng gegen einen mäßigen Satz übernimmt. So natürlich dieses Verfahren ist und so gute Erfolge man damit erzielt hat, es haften ihm doch auch Uebelstände an. Insbesondere ist es, auch bei weitem Entgegenkommen der Quartierwirthe, immer noch verhältnismäßig theuer. Ferner entsprechen die Räumlichkeiten, welche der Besitzer eines ländlichen Gasthofs für einen solchen Zweck zur Verfügung stellen kann, vollends bei der starken Belegung, nicht immer den gesundheitlichen Anforderungen, die man an sie stellen muß, soll der Zweck des Landaufenthalts an den kränkelnden Pflänzchen des Stadtbodens erreicht werden. Endlich ist auch die Ueberwachung vielfach erschwert, da die Kinder zur Nacht doch meist in verschiedene Zimmer vertheilt werden müssen. Und was erst mit den müßigen Seelen anfangen, wenn ein heimtückischer Landregen sie unter das Dach bannt! – So kam man denn im Lau[f]e der Zeit auf den Gedanken, eigene Häuser zu bauen oder zu erwerben und sie zur Aufnahme der Sommerpfleglinge einzurichten. Die guten Er[f]ahrungen, die man damit gemacht hat, werden mehr und mehr zur Nachahmung reizen; und wenn wir im folgenden zwei Anwesen dieser Art dem Leser näher vor Augen führen, so möchten auch wir zu weiterem Fortschreiten auf dieser Bahn anregen.

Auch im Schoße des Vereins für Ferienkolonien zu Leipzig war der Wunsch nach der Erwerbung eines eigenen Besitzthums längere Zeit lebendig gewesen, ohne daß sich Mittel und Wege zur Ausführung gezeigt hätten. Da kam plötzlich Hilfe. Im Jahre 1888 starb der Geheime

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 364. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_364.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2021)