Verschiedene: Die Gartenlaube (1893) | |
|
Ungefähr ein halbes Jahrtausend, ehe die Karavellen des Kolumbus den Atlantischen Ocean durchfurchten und statt der gesuchten Gestade Indiens die eines unbekannten Landes fanden, hat, wie bekannt, ein kühnes Seefahrervolk auf anderem Wege bereits den Boden desselben Kontinents erreicht. Es waren die skandinavischen Normannen, die, wie sie die Küsten Mitteleuropas und seiner Inseln auf schweifenden Raubzügen heimsuchten so auch nach dem nordischen Meere ihre Fahrten ausdehnten, die Orkney- und Shetlandinseln, die Faröer besetzten, Island und Grönland in ihren Machtbereich zogen und von hier aus schließlich auch an der Ostküste des heutigen Amerikas hinabsegelten.
Bjarne Herjulfson
war nach alten Berichten
der erste, der,
als er seinen Vater in
Grönland aufsuchen
wollte, durch heftigen
Nordwind nach Süden
verschlagen wurde
und in die Gegend
von Neu-Fundland
und Neu-Schottland
gerieth, ohne doch dort
zu landen. Seine Erzählung
von dem neuen unbekannten
Lande reizte Leif, den
Sohn Eriks des Rothen,
die Fahrt ihm
nachzuthun. Mit 35
Genossen machte er
sich auf seine kühne
Entdeckungsreise, berührte
Neu-Fundland
und Neu-Schottland
und ging schließlich
an einer Stelle vor
Anker, die man in
dem heutigen Massachusetts
suchen zu
dürfen glaubt. Er
errichtete daselbst eine
Ansiedlung, in der er
mit seiner Schar den
Winter verbrachte.
Die Gegend erwies
sich als äußerst fruchtbar,
und als besondere
Merkwürdigkeit
fanden die Seefahrer
Weintrauben in Hülle
und Fülle.
Mit dieser Entdeckung der Trauben verknüpft sich eine hübsche Geschichte, aus der wir zugleich – die Glaubwürdigkeit der alten von Rudolf Cronau in seinem Werke über Amerika benutzten Berichterstatter vorausgesetzt – entnehmen können, daß auch unsere engere germanische Heimath bei dieser Wikingerfahrt nach Amerika nicht ganz unbetheiligt war. Um nämlich eine genauere Untersuchung des Landes zu bewerkstelligen, hatte Leif Erikson seine Mannen in zwei Abtheilungen getheilt, von denen die eine zur Bewachung der „Leifsbudir“ getauften Ansiedlung zurückblieb, während die ändere Streifzüge in die Umgegend zu unternehmen hatte. Eines Tages ereignete es sich nun, daß einer der zur Kundschaft ausgesandten Männer fehlte, und dieser Vermißte war ein Deutscher Namens Tyrkir (Dietrich), ein unansehnliches Männchen, aber sehr geschickt in allerlei Handwerk. Derselbe hatte schon in den Diensten von Leifs Vater gestanden und hatte Leif von dessen Kindheit an sehr geliebt. Um den Vermißten zu suchen brach Leif selbst sofort mit zwölf Männern auf, doch war man noch nicht weit gekommen, als Tyrkir ihnen entgegeneilte, augenscheinlich in einem ganz aufgeregten Zustande. Die Fragen Leifs beantwortete er in der Erregung zuerst in deutscher Sprache, zugleich lachte er vor sich hin. Erst nach einer Weile fing er an, isländisch zu reden, und berichtete, daß er Weintrauben und Reben in Fülle gefunden habe, welche er von seinem deutschen Heimathland aus sehr wohl kenne.
So kam es, das man dem neu entdeckten Lande den Namen „Winland“, Weinland, gab.
Andere Normannen folgten, und bald kam es auch zu Kämpfen mit den Eingeborenen. Es waren Gestalten von dunkler Hautfarbe, mit bösartigem Aussehen, struppigen Haaren, großen Augen und breiten Backenknochen – eine Beschreibung, aus der man auf ihre Zugehörigkeit zu einem Eskimostamme schließt. Sie waren im Besitz von Fellbooten und erwiesen sich als gewandte Bogenschützen. Thorwald Erikson fiel unter den Pfeilen der Skrälinger – „Schwächlinge“, so hießen die nordischen Helden die unscheinbaren Bewohner – ein anderer, Thorfinn Karlsesni, hatte bereits eine regelrechte Schlacht gegen sie zu bestehen. Nichtsdestoweniger setzten sich die Wikingerzüge nach der verführerisch schönen und reichen Küste noch jahrelang fort, bis nach Karolina sollen sie sich ausgedehnt haben. Endlich aber wurden sie durch eine Reihe ungünstiger Umstände unterbrochen, die Ansiedlungen auf amerikanischem Boden gingen wie die auf Grönland ein, und immer dunkler und verschwommener wurde die Kunde von dem Vinland im fernen Westen. Ein dauernder Verkehr zwischen der Alten und der Neuen Welt hat sich an die Fahrten eines Leif Erikson nicht angeknüpft: einen solchen zu eröffnen und damit die Neue Welt wirklich mit der Alten zu verbinden, das ist erst dem kühnen Genuesen Christoforo Colombo beschieden gewesen.
Wenn somit die Fahrzeuge der nordischen Seehelden sich an geschichtlicher Bedeutung nicht mit den Karavellen des Kolumbus messen können, so ist ihr Antheil an der Vorgeschichte Amerikas doch immer noch groß genug, um sie den Reliquien an die Seite zu stellen, welche uns an jene alten Zeiten erinnern. Es war darum ein ganz folgerichtiger Gedanke, wenn man auf der Wellausstellung zu Chicago der Flotte des Kolumbus, d. h. ihrer naturgetreuen Nachbildung, auch eine solche der „schaumhalsigen Wellenrosse“ jener nordischen Seekönige beigesellen wollte.
Dieser Gedanke ging aus von einem norwegischen Seemann Namens Magnus Andersen, und in Norwegens Hauptstadt stand ja auch die beste Vorlage für diesen Zweck zur Verfügung. Im Archäologischen Museum der Universität Christiania sind nämlich die Reste eines Wikingerschiffs aufbewahrst das im Jahre 1880 in einem Grabhügel bei Gokstad in der Nähe des Seebadeortes Sandefjord am westlichen Ufer des Christianiafjords gefunden wurde und nach zuverlässige Annahmen etwa aus dem Jahre 900 n. Chr. stammt.
Es war eine in dieser Zeit – die Gelehrten bezeichnen sie als das „jüngere Eisenzeitalter“ – nicht selten geübte Sitte, daß man die Toten auf und mit dem Schiff begrub, das sie im Leben getragen. Man zog das Fahrzeug aus den Strand, zimmerte darin eine Grabkammer, welche die mit vollem Waffenschmuck bekleidete Leiche aufnahm, und wölbte darüber
die Erde. Einer solchen Bestattung verdanken wir auch den Fund von
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 396. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_396.jpg&oldid=- (Version vom 31.8.2021)