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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Aus Verdis Heimath und Heim.

Von Woldemar Kaden.

Das Goethesche „Sonnenland“ jenseit der Alpen ist nicht überall das ideale Land, wo Lorbeer und Myrthen unter dem sanften Hauche des Meerwinds sich grüßenb neigen oder Citronen und Orangen dem Wanderer in den durstigen Mund wachsen. Der deutsche Reisende, der mitten im Winter, schmutzigem Boden und trübem Nebelhimmel der Heimath entfliehend, schon beim Namen Mailand an sonnigen italienischen Maienzauber denken möchte, erlebt zunächst eine arge Enttäuschung, wenn er von Lodi ab über Piacenza nach Parma hin in das Flachland am Po einfährt: herber und starrer Boden, kultiviert nur im Laufe der Jahrhunderte unter stetem Ringen mit den wild gegen die Menschen-Herrenhand sich auflehnenden Naturkräfte, die das hier seit Römerzeiten angesiedelte Geschlecht eben auch herb und zähe, tüchtig und bieder, zu einem zuverlässigen Menschenschlag herangezogen haben, aus dem schließlich sogar kräftige Geister erstehen konnten.

Diesem trefflichen Ackerbauerngeschlechte, das hier an den Nebenflüssen des Po sitzt, ist Giuseppe Verdi entsprossen.

Wer von Piacenza nach Bologna fährt, kommt dicht an seiner Heimath und an seinem Heim vorüber – das wissen aber die Wenigsten.

Gelangweilt von der starrmürrischen Landschaft, hören sie von dem eiligen Zug aus, oder lesen sie die Namen unberühmter Stationen, nach Piacenza Pontenure, Cadeo, Fiorenzuola, Alseno – sehen sie eine Menge Flüsse und Flüßchen das Land durchirren, die alle dem altehrwürdigen Vater Po zuhasten, und dann werden wohl von italienischen Mitreisenden bedeutungsvoll die Namen Busseto und Roncole und Sant’ Agata ausgesprochen und es wird links hinausgedeutet, wo hinter dichten entblätterten Baumreihen eine weiße Villa erscheint, dazu ertönt in begeisterten Tönen der Name Giuseppe Verdi.

Wohl, das starre Land da ringsum, das die Via Aemilia und der Po durchschneiden, ist die Heimath des „Schwans von Busseto“, auf diesem Boden ist seine Familie erwachsen, die in ihrem letzten Gliede allen italienischen Landen zu so klingendem Ruhm verhelfen sollte. Eine Stunde etwa von seinem Vororte Busseto entfernt liegt das Dörflein Roncole, eine armselige Häusergruppe, von etwa 1200 ackerbautreibenden Menschen besiedelt und weithin verstreut über das Feld-, Wiesen- und Baumland.

Ein armselig Nest war auch die Lokanda, selten besucht von wandermüdem Volk der Landstraße, wo am Anfang dieses Jahrhunderts ein junges Ehepaar, Carlo Verdi und Luise Utini, sein Wesen trieb, der Vater Zucker, Kaffee, Schnaps, Essig, Heringe, Nägel und Zwirn soldoweise an die Bauern verkaufend, die junge Mutter spinnend.

Hier wurde am 9. Oktober 1813, während in Deutschland der große Befreiungskampf tobte, das Knäblein geboren, das zwei Tage darauf als „Joseph Fortunin Francis Verdi“ (die Landschaft gehörte damals noch zu den „Départements au delà des Alpes“) in das Civilstandsregister der Gemeinde Busseto eingetragen wurde.

Mit gerecktem Halse, weithinblickend über die in saubere Rechtecke eingetheilten Felder, hebt sich der Thurm der kleinen Kirche von Roncole über die niedern Häuser empor, und in der weißgetünchten Kirche steht als ehrwürdige Reliquie die altersschwache, nunmehr recht brustkranke Orgel, welcher der elfjährige Dorfknabe einst als Organist vorstand. Zeugen dieser Zeit sind noch einige hieroglyphenhafte Namensinschriften, von der unbeschäftigten Hand des Jungen mit dem Taschenmesser in die verwitternden Balken eingeschnitten.

Wundergeschichten aus seiner Jugend, aus denen man auf einen unwiderstehlichen Trieb für Musik schließen könnte, tischt der ehrliche Meister nicht auf, seine Biographen aber weben schon den Epheu der Legende um sein Haupt und erzählen, daß er wie der Knabe Mozart Musik im Rauschen der Wasser und Wälder gehört und den Maienvögeln die ersten süßen Melodien abgelernt habe. Gewiß ist nur, und das erzählte er so manches Mal schon in der heitersten Weise, daß man, wie überall damals im ganzen Lande, sich auch in dem kleinen weltfernen Roncole über die italienische Trübsal durch die alte Trösterin Musik hinwegtäuschen ließ und daß diese Tröstungen der sehr alte Schullehrer Baistrocchi, der die kleine Orgel bearbeitete, und ein wandernder Violinist übernommen hatten, ein zerlumpter, bettelarmer, zaundürrer Landstreicher, der vor der Thür der Verdischen Lokanda seine spanischen Tänze und alten Weisen aufspielte und damit einen großen Eindruck auf das Gemüth des Dorfjungen machte.

Eine rührende Geschichte ist es, wie dreißig Jahr später, als der Maestro, bereits vom ersten Sonnenschein seines Ruhmes bestrahlt, seine Villa Sant’ Agata gegründet hatte, derselbe land- und geigenstreichende Mann, immer dürrer geworden und immer noch in Lumpen, immer noch seinen uralten Weisen treu, vor das Gitterthor der Villa zu spielen kam. Verdi erkannte ihn, und an diesem Tage begingen zwei Menschen ein großes Fest: einer in Erinnerungen, der andere an reichbesetzter Tafel schwelgend. Mit Rührung gedenkt heute noch der Achtzigjährige jenes längst Verschollenen, der nicht bloß sein junges Ohr für weltliche Melodien anregte, sondern auch dem guten Vater rieth, seinen Sohn zur Musik anzuhalten.

Diese wurde zunächst in Roncole selbst auf einem überaus armseligen Klimperkasten in Angriff genommen, den der Vater unter einem großherzigen Ansturm auf seine kleine Sparkasse von einem benachbarten Priester erworben hatte. Das Instrument war ein aus irgend einem Urväter-Hausrath stammendes Spinett, der ebenso urväterliche Baistrocchi führte den jungen Giuseppe in die Geheimnisse der Skalen und Fingerübungen ein, und es war eine unendliche Freude für den Knaben, als er, für sich allein, den ersten C-dur-Akkord gefunden hatte. Leider vermochten die zarten Hämmerchen und Federspulen den harten Griffen des Knaben nicht lange Widerstand zu leisten, und wer weiß, ob nicht das ganze Musikvorhaben hier würde gescheitert sein, wenn nicht ein guter Handwerker aus Busseto helfend in die Mechanik eingegriffen hätte.

Das alte Möbel steht heute als Gedenkstück in der Villa Sant’ Agata, wo wir es im zweiten Stockwerk finden zur Seite einem andern, gleichermaßen in Ehren gehaltenen Wiener Pianoforte, das wir später kennenlernen werden. Wir wallfahrten indessen zur Villa, den Alten selbst zu sehen.

Wie Sonntagsfeier, wie der Duft eines hohen Festtages liegt es auf dem Lande; ein stiller Friedensglanz, der Wiederschein eines goldenen Sonnenuntergangs verklärt das Antlitz des schlanken stattlichen Greises, der, die Hände auf dem Rücken, das silbergeschmückte Haupt leicht zu den Blumen geneigt, zwischen dem frischgrünen Strauchwerk umherwandelt, nicht beunruhigt, nicht bethört und berauscht von dem tollen, rufenden Beifall, den ihm eben jüngst eine Welt zugeschrieen, nicht benebelt und nervös gemacht durch die dicken Weihrauchwolken, in die ihn die überspannten Opferer gehüllt. Lächelnd denkt er der bewegten Tage, froh, sie überstanden zu haben, und dazu achtzig Jahre alt!

Wer hätte das geahnt? Ein alter knorriger Stamm, der zu den abgestorbenen gezählt wurde, wird über Nacht von einem gewaltigen Frühling gepackt und ein ganzer Blüthenhimmel überwölbt seine Krone: der alte Verdi schenkt der blasierten Welt seinen lebensfrohen jugendfrischen „Falstaff“ und steht dabei, als ob sich das und noch einiges andere dazu von selbst verstünde. Er gehört zu jenen wenigen Gottbegnadeten, die das Alter in der Jugend abmachen, um dann im Sommer zu leben und im Frühling auszuklingen. –

Es ist ein einladendes Haus, diese Villa Sant’ Agata, ein Haus, dem man schon von außen die Behäbigkeit, die bequeme Gastlichkeit, die liebenswürdige anspruchslose Lebeweise des Besitzers ansieht. Der moderne, protzenhafte, goldprunkende Geist des Scheinenwollens ist in diese Räume nicht eingedrungen – ein oft wiederholtes Wort des Alten ist: „Ich will nicht auffallen, aber auch nicht abfallen“ – und wenn die Eleganz nicht fehlt, so muß man sie doch im höheren Grade sauber, zierlich, schmuck, heimelig nennen.

Der Maestro, der das einfache Haus um das Jahr 1849 ankaufte, hat es nach seinen Gedanken umgebaut; so haftet seine Seele an allem. Ursprünglich bestand es aus fünf, sechs Zimmern, dann, als seine Töne sich in klingendes Gold verwandelten, wurde von Jahr zu Jahr angebaut

„Die Räume wachsen, es dehnt sich das Haus –“

und doch ist, trotz des nicht ganz zufriedenen Besitzers, der sein Werk als ein „adattamento“, eine „Anpassung“, bezeichnet, ein einheitliches Ganzes entstanden, bescheiden, wie Verdi immer bescheiden war und heute noch ist.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 402. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_402.jpg&oldid=- (Version vom 8.6.2021)