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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Der Sänger.

Roman von Karl v. Heigel.
(1. Fortsetzung.)


2. Der Kammersänger.

Nahe der See, die unter dem Sommerhimmel nur leise athmete, auf einem umgestürzten Fischerboot saß ein junger schöner Mann und klimperte auf einer Mandoline; es war Herr Hofopern- und Kammersänger Siegfried Leisewitz. Er trug einen abenteuerlichen Sommeranzug, das Werk eines Pariser Schneiders, und auf dem braunen Lockenhaar – die Locken waren das Werk seines Kammerdieners Purzel – einen verfeinerten Südwester. Um ihn im Halbkreise stand eine dichte Schar barfüßiger Dorfkinder – der Delphinenschwarm um den modernen Arion. Er klimperte und sang eine italienische Barcarole. Als er geendigt hatte, schwang er sich herab und rief fröhlich: „Und nun, Ihr baltischen Nixen und männlichen Meerungeheuer, sagt: wie hat Euch dieses Lied gefallen? Sprecht Euch aus, ich bin gegen alle Kritik gefeit, ein hörnerner Siegfried ohne Achillesferse. Sprecht!“

Die Buben und Mädchen grinsten oder kauten verlegen an den Fingern, dann fing ein Knirps zu kichern an, andere fielen ein, zuletzt brachen alle in ein unbändiges Gelächter aus. Er aber zog lustig den Hut und verbeugte sich.

„Euer Beifall rührt mich. Hier“ – er griff in die Tasche und warf eine Handvoll Nickelmünzen unter sie, die sich alsbald darum im Sande balgten und pufften – „hier die Reste eines königlichen Vermögens! Vergeudet sie, obzwar ich nicht weiß, wie das hier möglich ist. Aber das kindliche Gemüth ist erfinderisch. Und nun fort, und wenn Ihr alt und grau seid, erinnert Euch, daß Ihr ihn gesehen, gehört und vierzehn Tage lang besessen habt, den letzten großen Sänger, Siegfried Leisewitz!“

Seine Mahnung war überflüssig, der Kinderschwarm wirbelte zankend und sich zerrend weiter und weiter, dem Dorfe zu, das zwischen der zerklüfteten waldbestandenen Düne lag. Leisewitz hing seine Laute über die Schulter und rief einem Manne zu, der weitab im nassen Geröll stand und meerwärts blickte. Dieser folgte dem Rufe sogleich und gesellte sich zu dem Sänger.

Neben dem hochgewachsenen breitschulterigen Leisewitz machte der andere, der städtische Kapellmeister Robert Lenz, einen dürftigen Eindruck. Er war mittelgroß und leidlich hübsch. Man erkannte auf zwanzig Schritte den Deutschen, während sich Leisewitz getrost für einen Romanen ausgeben konnte. Lenz war ein tüchtiger Musiker, und das eine und andere „Opus“ pon ihm hatte einen Verleger und wohl auch eine kleine gläubige Gemeinde gefunden. Wegen dieser bescheidenen Anfänge indes würde ihn der gefeierte und verwöhnte Leisewitz kaum seines Umganges gewürdigt haben. Allein im Fischerdorf war Lenz die einzige Gesellschaft. Unter Tages brachte nur die liebe Jugend, die Schulferien hatte, einiges Leben in das Dorf – die Männer waren auf der See, die Frauen auf den Feldern oder am Webstuhl; abends ging alles mit den Hühnern schlafen. Den dunklen Vorstellungen von einer „Idylle am Meer“, die Leisewitz verlockt hatten, die paar Wochen bis zur Ankunft der Prinzessin nicht im Seebad Wörde, sondern in dem benachbarten Wahndorf zu verleben, entsprach die Wirklichkeit nur wenig. Ohne Lenz, der sich in die Einsamkeit begeben hatte, um zu arbeiten, würde Leisewitz nach den ersten drei Tagen geflohen sein; glücklicherweise war jener ein guter Kamerad.

„Undankbarer!“ redete Leisewitz den Ankommenden an, „ich singe mit meiner schönsten Stimme, und Sie patschen im Nassen und kümmern sich den Kuckuck um den Sänger.“

„Ich blieb immer in Hörweite, lieber Herr Leisewitz. Während Sie die ‚Meerfahrt‘ sangen, kam ein Dampfer in Sicht, tauchte auf und verschwand in fröhlicher Fahrt, und das machte sich sehr hübsch.“

„Da sind Sie glücklicher als ich. Ich habe auf diesem fluth- und ebbe- und salzlosen Wasser noch kein ordentliches Schiff gesehen,“ sagte Leisewitz gähnend. „Wie viel Uhr haben wir denn?“ Er zog aus der bunten Schärpe, die er anstatt einer Weste trug, eine diamantenbesetzte Uhr. „Ein Geschenk des Großsultans,“ ließ er einfließen. „Zehn Uhr vorüber! Um Elf holt uns der Wagen des Sonnenwirths ab. Es bleibt dabei, Sie fahren mit!“

Robert nickte vergnügt.

Und der Knecht schafft nachmittags unser Gepäck in die Stadt. Und wenn Sie Ihr altes Klavier nicht in den Dorfkrug stiften wollen –“

„Sie sind ein Spaßvogel, Herr Leisewitz.“

„– so hat auch das noch auf der Karre Platz. Wir aber sind um Zwölf in Wörde und haben gerade noch Zeit, uns zur Wirthstafel in der ‚Sonne‘ umzukleiden. Denn daß Sie heute mein Gast sind, versteht sich von selbst.“

Robert nickte wieder, ganz roth vor Vergnügen und Verlegenhelt.

„Das Packen wird von meinem Kammerdiener besorgt,“ fuhr Leisewitz fort, „doch was machen wir?“ Er sah gelangweilt umher. „Es ist zu warm, und der Seespiegel und die weißen Ufer blenden mich. Kommen Sie mit auf die Düne! Aber, liebenswürdigster Maestro, einen Gefallen: rauchen Sie nicht! Die Luft ist das einzige Gute hier, und Ihre Cigarren – nehmen Sie mir meine Offenherzigkeit nicht übel – Ihre Cigarren riechen verrucht!“

Auf der bewaldeten Düne unter jungen Buchen standen Tisch und Bank. Leisewitz schwang sich auf den Tisch, so daß er die Sonne und das blitzende Meer im Rücken hatte, und benutzte den Sitz, auf dem sein Begleiter Platz nahm, als Fußbank.

„Es thut mir leid,“ begann Robert, „daß Ihnen der Aufenthalt hier so ganz und gar nicht gefallen hat.“

„Der Name dieses Nestes verführte mich; er erinnerte mich an Richard Wagner und seine Lehre vom Wahn. Gerade unsere edelsten Empfindungen wurzeln nur im menschlichen Wahnvermögen. Wahn, überall Wahn! Das stimmt! Hoffentlich sind auch Sie dieser Ansicht.“

„Hoffentlich werde ich niemals dieser Ansicht sein,“ erwiderte Robert. „Doch wie dem auch sei – ich muß dem Philosophen Wagner dankbar sein, denn mir werden diese vierzehn Tage unvergeßlich bleiben!“

„Sie sind ein guter Junge, alter Freund! Uebrigens, wie alt sind Sie denn eigentlich?“

„Gestern feierte ich meinen zweiunddreißigsten Geburtstag.“

„Feierten? Sagen Sie, wie man das hier möglich macht! Haben Sie vom Göttertranke ,Frank und Söhne‘ eine Schale mehr getrunken?“

Der andere lächelte verschmitzt. „Der Trank, den unsere Wirthin braut, dankt seine Kraft nicht ‚Frank und Söhne‘, sondern Fritz Hagemann und Kompagnie. Aber gefeiert hab’ ich meinen Geburtstag – und wie gefeiert! Erinnern Sie sich, daß ich Sie vorgestern abend bat, mir das neukomponierte Lied meines ,Tasso‘ zu singen; Sie wissen, im letzten Akt kurz vor der Wende:

  ,In Deinem Haar die blasse Rose –‘

und Sie Ahnungsloser erfüllten meinen Wunsch und sangen, sangen wie ein Gott! Konnte der Vorabend schöner sein?“

„Ei, ei, solche Scherze treiben Sie mit mir!“

„Und dann, wahrhaft begeistert, brachte ich während der Nacht das Finale der Oper zu Papier. Und als ich die letzten Noten hingeworfen hatte, brach der Morgen an. Ich ging ans Meer. Himmel und Erde kamen mir festlich vor – ich hörte Sonntagsglocken den ganzen Tag.“

„Eigentlich sollten Sie erst zwanzig Jahre zählen. Sie haben noch soviel jugendliche Begeisterung.“

„Und Sie, der wahrhaft große Künstler, etwa nicht?“

„O doch – das heißt, wenn ich auf der Bühne stehe oder in einer glänzenden Gesellschaft vor einem Schwarm schöner Mädchen und Frauen – dann wohl. Aber wie Sie in Wörde ausdauern konnten, ohne daß die Sonntagsglocken einen Sprung bekamen, ist mir unbegreiflich.“

„Nun, ein Krähwinkel ist Wörde denn doch nicht. Und was die schönen Frauen anbelangt, so kann man ja nur für eine schwärmen, und die ich meine, ist schön!“

„Ah, das ist stark! Vierzehn Tage lang reden Sie mir nur von Gesang, niemals von Wein und Weib – also doch Don Juan, aber heimlich!“

Robert schüttelte traurig den Kopf und sagte einfach : „Hoffnungslos!“

Leisewitz strich seinen Schnurrbart. „Am Ende bilden Sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_478.jpg&oldid=- (Version vom 23.7.2022)