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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

her, sah dann mit einem offenen freien Blick, der seinem angenehmen Gesicht sehr gut stand, das junge Mädchen an und sagte: „Ungefähr so!“

Annaliese bog sich ein wenig vor und reichte ihm über den Tisch hinweg die Hand. „Das ist recht, Sie sind ehrlich. Ach, wenn ich wüßte, daß Sie wirklich ganz, ganz ehrlich sind, dann möchte ich wohl –“

„Nun? Dann möchten Sie wohl?“

„Bitte, lassen Sie mich ein kleines Weilchen in Frieden! Ich muß erst nachdenken, ob das, was mir da eben durch den Sinn fuhr, auch geht.“

Sie lehnte sich tief in den Sessel zurück und drückte von neuem die Augen halb ein. Es blieb eine Zeitlang ganz still im Zimmer, nur ab und zu knisterte der Atlas an Annaliesens Kleid, wenn sie eine leichte Bewegung mit ihrem geschmeidigen Oberkörper machte. Aus dem Kabinett nebenan hörte man deutlich eine gedämpfte Männerstimme, sowie den sonoren Alt der Generalin.

„Ja, ich denke, es wird doch gehen,“ sagte endlich Annaliese langsam, aus ihren Gedanken heraus. Sie stützte den Ellbogen auf die Tischplatte und schaute den Professor mit einem langen prüfenden Blick ganz unbefangen an. „Warum sollte ich auch nicht? Was ist’s denn weiter? Und gerade, um Ihnen zu zeigen, daß Ihr Wort mir etwas gilt, trotzdem Sie kein sogenannter Kavalier sind! Dieser Unsinn übrigens! Als ob es das thäte! Aber Ihr Wort müssen Sie mir natürlich geben. Es ist so schlimm für mich: ich möchte jemand haben, der mir mit seinem Rath und Urtheil in einer sehr wichtigen Sache hilft, und da finde ich niemand, weder unter meinen Freundinnen, noch unter meiner ‚Garde‘ – ach, Sie wissen nicht, wer das ist – das sind Großmamas Hausfreunde, ihre Adjutanten – die sind alle zu sehr betheiligt, zu persönlich in ihrer Auffassung . . . es muß ein ganz Unbefangener sein, dem ich Vertrauen schenken soll!“

„Gerade wie die alte Excellenz!“ dachte Gregory für sich. „Freuen wir uns unserer Unpersönlichkeit und Unbefangenheit!“ Laut setzte er hinzu: „Und Sie haben von mir die gute Meinung, meine gnädigste Gevatterin, daß ich Ihnen mit meinem Rath und Urtheil nützen könnte?“

„Ich denke! Sie sind doch ein erfahrener Mann! Wie alt sind Sie?“

„Ich bekenne mich zu dem ehrwürdigen Alter von sechsunddreißig Jahren.“

„Sechsunddreißig? Das ist noch gar nicht ’mal so sehr alt. Und Erfahrungen werden Sie doch auch haben!“

„Es käme darauf an, was Sie darunter verstehen.“

„Ach!“ Annaliese zuckte ungeduldig die Achseln, „Menschenkenntniß und das alles!“

„Hm! Vielleicht nicht so viel, als Sie glauben. Ich lebe im ganzen ziemlich still für mich –“

„Soll das heißen, daß Sie also nicht wollen?“

„Nein, das soll es nicht heißen. Ich will ganz entschieden – nur möchte ich nicht, daß Sie sich übertriebene Vorstellungen von meiner Weisheit machen.“

„Ich werde mir Mühe geben – aber nun, wann und wo? Jetzt ist keine Möglichkeit dazu, Großmama kann jede Minute ins Zimmer zurückkommen, und die darf nicht einmal ahnen, um was es sich handelt.“

„Habelt Sie kein Vertrauen zu ihr?“

„Ich? Zu Großmama? Jetzt kommt es mir selbst so vor, als hätten Sie wenig Erfahrung und Menschenkenntniß, Herr Gevatter! Großmama hat nie mein Vertrauen haben wollen, sie wüßte überhaupt gar nicht, was damit anfangen – sie wäre die Letzte, der ich damit käme!“

„Aber sie hat Sie doch lieb.“

„Ganz lieb – ja – wie man solch ein verwaistes Enkelkind nicht umhin kann, liebzuhaben. Aber ich möchte einmal in meinem Leben ganz anders geliebt werden, als wie Großmama mich liebt!“

Ehe der Professor dazu kam, zu dem letzten Satz, der ihm sehr einleuchtete, seine unbedingte Zustimmung zu geben, öffnete sich die Thür und die Generalin sah herein.

„Annaliese, der Herr Divisionsprediger hat die Liste zu Unterschriften für den Kirchenbau in Unjamwesi gebracht. Wieviel soll ich in Deinem Namen zeichnen?“

„Nach Deinem Belieben, Großmama! Soviel Du willst!“

Es hatte sehr gleichgültig geklungen, Annaliese sah ungeduldig aus.

„Thun Sie das nicht gern?“ fragte Gregory, als sie wieder allein waren.

„Nein; gar nicht! Diese Art von Wohlthätigkeit läßt mich ganz kalt. Ich bitte Sie: Kirchenbau in Unjamwesi! Was hab’ ich davon? Ich werd’ ihn nie zu sehen bekommen. Wenn Großmama mich machen ließe, wie ich wollte, ich würde andere Wohlthaten ausüben, ganz andere. Ich wollte selbst zu Leuten gehen, die ich kenne, und denen Geld bringen und Sachen und ihre Kinder beschenken. Aber ich darf das nicht. Da heißt es, es sei unsauber und häßlich bei den armen Menschen – ja, ich glaub’ das schon, wie soll es denn anders sein in ihrer Noth? Und für die Enkelin der Excellenz von Guttenberg schicke sich das nicht, in solche Stuben zu gehen – höchstens erlaubt Großmama, daß ich ’mal unserer Wäscherin und unserer ehemaligen Köchin etwas bringe, aber die wissen dann im voraus, daß ich komme, und haben sich sanber angezogen und ihre Wohnung aufgeräumt. Die sind auch gar nicht so arm, die verdienen ein ganz gutes Stück Geld und kennen kein Elend, und wenn ich da mit dem Wagen vorfahre, das paßt mir nicht und paßt auch nicht für die Armen – zu Fuß aber darf ich nicht. Und nun kommt mir Großmama mit dem Kirchenbau in Unjamwesi! Ich bin vor einem Vierteljahr mündig gesprochen worden – Großmama hat das durchgesetzt, es handelte sich um allerlei dumme Vermögensgeschichten – nun fragt sie mich der Form halber; aber sie weiß recht gut, wie einerlei mir das ist. Ich klage meine Großmutter nicht an bei Ihnen, das denken Sie nur ja nicht – sie ist nur aus einer anderen Zeit wie ich und auch aus einem andern Stoff. Warum sehen Sie so verwundert aus? Sagen Sie offen, was Sie eben dachten; ich will das wissen!“

„Ich dachte, daß Sie ganz anders seien, als ich annahm.“

„Und was nahmen Sie – nein, nein, die Antwort erlasse ich Ihnen, ich kann sie mir gut genug vorstellen! Aber nun unsere Unterredung! Morgen ist der berühmte Polterabend, die Hochzeit übermorgen, also Sonnabend – was meinen Sie? Großmama hat da ihre Kartenpartie von alten Damen, und Sie kommen auf ein Stündchen in meine kleine Wohnung hinüber!“

„Wenn Tante Excellenz nichts dagegen hat –“

„Wie sollte sie? Ich habe oft drüben Besuch – Sie kennen ja auch meine Zimmer noch gar nicht. Können Sie abends sieben Uhr da sein?“

„Sie haben nur zu befehlen!“

„Das glauben Sie ja selbst nicht – warum sagen Sie es also? So feierlich und ironisch waren Sie schon vor Jahren zu mir, als ich noch ein kleines Mädchen war, und das hat mich immer geärgert.“

„Es thut mir jetzt sehr leid, Sie geärgert zu haben. Werden Sie mir das glauben?“

„Wenn Sie dieses Gesicht dazu machen – ja! Doch da kommt Großmama! – Ich habe Deinen Neffen, Herrn Prosessor Gregory, ersucht, Sonnabend meine Wohnung in Augenschein zu nehmen und ein Stündchen mit mir zu plaudern. Du hast nichts dagegen?“

„Durchaus nicht, mein Kind. Ihr trinkt dann abends den Thee mit mir und meinen Gästen. Du willst fort, lieber Paul?“

„Es ist die höchste Zeit für mich! Auf Wiedersehen, verehrte Tante – Sonnabend um sieben Uhr, meine gnädigste Gevatterin!“

Die Generalin lächelte dem Professor huldvoll zu, als er ihr die Hand küßte, und flüsterte ein kaum vernehmbares: „Das trifft sich günstig!“

Annaliese hob ihr Tamburin vom Teppich auf und summte ein Liedchen vor sich hin.


3.

Am nächsten Tage spielte der Novembermonat den guten Einwohnern von B. bös zum Tanz auf. Am Himmel erschienen drohende dunkle Wolken, die sich alsbald in einem schweren Hagelwetter entluden. Die weißen Schloßen sprangen hoch empor auf dem Straßenpflaster und hüpften lustig klappernd auf den Fenstersimsen, zum Jubel der Kinder, die gar zu gern die langsam schmelzenden

Körnchen einfingen; Auf den Hagelschauer folgten heftige Regengüsse, die der sausende Nordost eisig und scharf wie Stahl den Leuten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 566. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_566.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2022)