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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Die Signorina lächelte den wilden Mann an, der ihr, von seiner Einbildungskraft hingerissen, den höchsten Tribut der Verehrung zollte. ‚Ich bin ein verirrtes Menschenkind,‘ sagte sie in ihrem fremden Accent, ‚Gewährt mir einen Platz für die Nacht unter Eurem Schutze und geleitet mich zurück nach Girgenti, sobald der Tag zu grauen anfängt!‘

Paolo sprang auf und berührte, noch immer zaghaft, die weißen Fingerspitzen, die sie ihm willig reichte. ‚Wer Ihr auch sein mögt, Madonna, ich bin Euer Knecht!‘ sagte er mit überquellender Empfindung. ‚Gebietet über mich!‘

Die Signorina hatte sich in dem engen seltsamen Raume umgesehen, worin links und rechts ein schlafender Mann ausgestreckt lag. ‚Wer seid Ihr?‘ fragte sie neugierig, ‚Arme Hirten,‘ antwortete Paolo verlegen. ‚Wir haben uns hier vor dem Unwetter geborgen.‘

‚Und jener Graubart dort – er ist so blaß – was fehlt ihm?‘

‚Er hat das Fieber,‘ lautete Paolos vorsichtige Auskunft. Während er dies sagte, erschrak er über den Gedanken, daß des Todes häßliches Grinsen die klaren Himmelsaugen seines Gastes treffen möchte. – ‚Ich will Euch ein Zimmerchen bereiten, worin Ihr allein sein werdet,‘ sagte er mit ängstlicher Hast. Und heftig rief er den schlafenden Dritten an: ‚Pietro, ermuntere Dich! Mach’ Raum; wir haben einen Gast bekommen!‘

Schlaftrunken kroch Pietro von seinem Lager empor und warf begehrliche Blicke auf das Geschmeide, das die Signorina an sich trug. Mit einem Fluche wandte er sich an Paolo: ‚Wo hat der Teufel die hergeführt?‘ Paolo schämte sich der Roheit des Gefährten. ‚Schweig und hilf mir,‘ zischte er zwischen den Zähnen hervor. ‚Sie soll behandelt werden, als wenn sie die Madonna selber wäre!‘ Er löste den Strick, woran der Vorhang befestigt war, und spannte ihn so, daß der eingeschlossene Winkel von dem Sterbenden getrennt war. Pietro stand abseits, an die Mauer gelehnt, und beobachtete mit finsterem Blick und höhnischem Lächeln das ihm unverständliche Treiben des Hauptmanns. Paolo breitete seinen Mantel auf den Boden und trat zurück. ‚Dies sei Euer Schlafzimmer, Madonna,‘ sagte er. ‚Könnte ich diese Steine zu Daunen machen und diesen Mantel zu einer seidenen Decke, ich thät’ es.‘

‚Und wo bleibt Ihr?‘ fragte sie.

‚Ich wache über Euch,‘ war Paolos Antwort.

‚Wo wäre denn hier Gefahr?‘ erwiderte Evelyn lächelnd. ‚Aber ich danke Euch, Ihr seid ein braver Mann! Gute Nacht!‘

Die beiden Banditen zogen sich zurück. Draußen kauerten sie nieder; keiner sprach ein Wort. Auch der Verwundete hatte aufgehört, zu stöhnen. Der Holzspan erlosch. Einzelne Tropfen fielen draußen nieder; noch eine Viertelstunde und der Regen klatschte schwer auf die Steintrümmer und durchnäßte die ungeschützten Männer. Unruhig wand sich Pietro. Endlich zischte er leise: ,Wie lange soll die Komödie noch dauern? Laß uns ein Ende machen mit dem Bambino, damit wir ins Trockene kommen!‘ Paolo aber rief mit mühsam niedergedrückter Wuth: ‚Versuch’ auch nur, ihren Schlaf zu stören, und Du hast es mit mir zu thun!‘

Eine Weile verhielt sich der andere ruhig. Dann begann er, in der Richtung des Vorhangs davonzukriechen. Paolo hörte es; ingrimmig flüsterte er: ‚Rühre Dich nicht weiter, sonst schlägt Deine letzte Stunde!‘ ‚Du bist ein altes Weib geworden, Paolo!‘ Und Pietro setzte seinen Weg fort. Da stürzte Paolo sich stumm auf ihn, das rasch gezogene Messer in der Faust. Auf den Knien liegend, empfing ihn sein Gefährte und führte einen Stoß von unten gegen den Angreifer. Der Stahl traf eine Rippe und glitt ab. Im nächsten Augenblick war Pietro zu Boden geschleudert und das Messer des Hauptmanns saß in seinem Herzen. Paolo lauschte. Nichts regte sich hinter dem Vorhange. ‚Gebenedeit sei die heilige Jungfrau!‘ brach es wie ein Dankgebet aus ihm hervor. Dann entfernte er sich leise von der Leiche und kehrte an seinen Platz zurück.

Langsam rückte die Nacht vor. In Saviello aber arbeitete es mächtig. Plötzlich wurde ihm die Erleuchtung, die er suchte. ‚Dieser sei der letzte,‘ murmelte er vor sich hin. ,Von ihm braucht niemand zu wissen. Aber die anderen!‘ Ein unsäglicher Ekel vor sich selbst ergriff ihn. In dem Himmelslichte der Reinheit und Unschuld, das mit Evelyns Erscheinen in die verfinsterte Seele des Verlorenen gefallen war, erkannte er mit Grausen seine Nichtswürdigkeit und die entsetzliche Größe seiner Schuld. ‚Sühnen mußt du, was du verbrochen!‘ schrie es in ihm. Und stumm beugte er sein Haupt. ,Dein Leben ist verwirkt!‘ sagte die Stimme. ‚Gieb es hin, und die Gnade kann dich vor ewiger Verdammniß retten!‘ Auf die Knie warf er sich. ,Heilige Jungfrau, bitte für mich!‘

Unterdessen waren die Regenwolken vorübergezogen. Frischer ward die Luft, das Gekreisch des Nachtgevögels war verklungen; geheimnißvoll bereitete sich im Osten der Morgen vor, eine leichte graue Dämmerung vor sich hersendend. Paolo raffte sich empor und lud den Getöteten auf seine Schulter. Sie durfte ihn nicht sehen, wenn sie erwachte. Seitab in einer Lücke des Gesteins verbarg er ihn und bedeckte die Leiche mit Trümmerstücken. Dann kehrte er zurück und wartete, den Tag herbeisehnend, der ihm das Heil bringen sollte. – Immer noch blieb es still hinter dem Vorhang. Friedlich, als ob sie sich von Engelscharen bewacht wüßte, schlummerte das Mädchen in dem Schlupfwinkel der Banditen.

Hell wurde es und immer heller. Und endlich tauchte die Sonne aus dem Meere hervor und sandte ihre goldenen Strahlen empor zu Siciliens Bergen. Da, blendend schön wie der junge Tag, trat Evelyn hervor, mit großen verzückten Augen in die wiedergeborene Welt schauend. Paolo starrte die Fremde an wie ein neues Wunder. Erst als sie sich nach dem Kranken erkundigte, sprang er auf, ihr den Blick auf den Gestorbenen versperrend. ‚Er schlummert in Frieden, Madonna,‘ antwortete er mit gesenkten Augen. Dann raffte er sich auf. ‚Seid Ihr bereit? Man wird in Sorge um Euch sein in Girgenti!‘

In einiger Entfernung irrte das Pferd der Signorina umher, zwischen den Steinen das harte Gras suchend. Paolo fing es ein und half ihr hinauf. Rüstig schritt er nebenher, als wenn er einem Feste entgegenginge. Als die Stadt in Sicht kam, erklärte er, sein Führeramt sei zu Ende. Die Signorina forderte ihm das Versprechen ab, eine Belohnung zu holen, Er aber bat demüthig: ‚Schenkt mir einen Eurer Handschuhe, Madonna.‘ Und als er ihn empfangen, küßte er ihn und barg ihn auf seiner Brust. Dort hat er ihn getragen bis zu seinem Ende.

Am Abend jenes Tages stahl Paolo sich zu mir und beichtete. Ehe er von mir ging, segnete ich sein Vorhaben. Gleich darauf hat das Gefängniß ihn aufgenommen.“

Der Pater hatte geendet und sank wieder in sich zurück.

Donna Maria ergänzte: „Erst Wochen nachher hat die Signorina gehört, in welcher Gefahr sie geschwebt hat. Niemand mochte es ihr sagen, In einer englischen Zeitung fand sie die Geschichte ihrer Begegnung mit Paolo Saviello; sogar ihr Name war genannt. Da ist sie doch nachträglich gewaltig erschrocken und ihr Vater hat sie schleunigst nach England senden müssen, da sie selbst in ihrem wohlverwahrten Hause keinen Schlaf mehr zu finden vermochte.“

Nochmals erhob der Pater sein Haupt. „Ich habe Saviello den Schmerz nicht anthun mögen, ihm dies mitzutheilen,“ sagte er. „Die englische Signorina lebte in seinem Gedächtniß als ein höheres Wesen, zu dessen Verehrung sich alles Gute in ihm vereinigte. Das einzige gütige Wort, das der arme Bursche seit seiner Kindheit gehöt hatte, war von ihren Lippen gefallen. ‚Ihr seid ein braver Mann!‘ hatte sie ihm gesagt. Das klang ihm in den Ohren wie himmlisches Geläute. Ich konnte die Grausamkeit nicht begehen, ihm zu eröffnen: auch sie fürchtet Dich jetzt, auch ihr schaudert vor Dir. Nein, ich schwieg; ich ließ es sogar geschehen, daß er sie und die Himmelskönigin, unsere gebenedeite Jungfrau, durcheinander wirrte. Sollte ich ihm nehmen, was ihm Trost gab, was ihm den dunklen Pfad erhellte, den er gehen mußte? – Er hatte den Namen der Fremden von mir erfahren. Heute morgen auf dem Schafott, während ich ihm leise zusprach, zog er den Handschuh hervor und drückte ihn an die Lippen. Ehe ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt wurden, gab er ihn mir. ‚Erzählt ihr von meinem Ende,‘ bat er, ‚wenn Ihr dies Geschenk zurückgebt.‘ Und ein wenig später, als die Binde schon über seinen Augen lag, hörte ich ihn flüstern: ‚Heilige Madonna, bitte für mich!‘ Es waren seine letzten Worte; eine Minute später hatte seine Seele die Erde verlassen.“




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