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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Das Observatorium auf dem Mont Blanc.
Von Hermann Gauß.

Die Wissenschaft, von der es eine Zeit lang schien, als habe sie ihr Auge von den Bergen abgewendet, schickt sich neuerdings wieder an, zu denselben zurückzukehren. Freilich galten früher ihre Forschungen dem Boden und seiner Gestalt und den darin aufgespeicherten organischen und anorganischen Körpern, während heute das Himmelsgewölbe es ist, das von jenen Höhen aus studiert werden soll.

Doch ist es nicht etwa der Wunsch, den Gestirnen näher gerückt zu sein, welcher den Gedanken erzeugt hat auf hohen Bergen Observatorien zu gründen. Denn selbst angenommen, daß es gelänge, eines jener Riesenfernrohre, deren sich die neuere Astronomie bedient, auf den höchsten Berggipfel der Erde zu bringen, so wollten die acht Kilometer, die man damit den Sternen näher gerückt wäre, im Vergleich zu der Entfernung, die immer noch zwischen ihnen und uns läge, nichts bedeuten; selbst der Mond, der unserer Erde doch am nächsten ist, wäre damit den Beobachtern nur um zwei Hunderttausendstel näher gebracht.


Professor Janssen.
Direktor der Sternwarte von Meudon.


Der Grund für die Errichtung von Observatorien auf hohen Bergen ist vielmehr in dem Vortheil zu suchen, welchen die größere Reinheit und Dünne der Luft den Forschungen bietet. Es bleiben dort alle jene Hindernisse aus der Atmosphäre entfernt, welche dem Beobachter in der Tiefe der Thäler und Ebenen sich entgegenstellen; nicht, daß sich der Mensch den Gestirnen selber, sondern daß er sich dem an die Atmosphäre unseres Erdballs sich anschließenden luftleeren Raume näher befindet, ist von Wichtigkeit.

Niederere Berge sind von der Wissenschaft schon seit einiger Zeit zu meteorologischen Beobachtungsstationen ausersehen worden, da von ihnen aus die Luftströmungen, unbeeinflußt von den verschiedentlichen Einwirkungen der Tiefe, sich wahrnehmen und messen lassen. Solcher meteorologischer Stationen bis zu einer Höhe von 30000 Metern über dem Meeresspiegel giebt es in Europa und Amerika bereits viele, und ihre Zahl ist jährlich im Zunehmen begriffen; aber für astronomische Forschungen im engeren Sinne sind sie nicht eingerichtet.

Bis jetzt besaß nur Amerika zwei Hochsternwarten, welche den Wünschen der Astronomen entsprachen. Es sind dies das Observatorium auf dem 1351 Meter hohen Berg Hamilton in Californien, nach seinem Stifter dem Industriellen James Lick, häufig einfach „Licksternwarte“ genannt, und das der Harward Universität in Cambridge bei Boston, errichtet bei Arequipa in Peru auf einer Höhe von etwa 3000 Metern in außerordentlich reiner Luft. Jetzt aber soll das Beispiel von Amerika auch in Europa Nachahmung finden, und zwar ist als Ort für die erste europäische Gebirgssternwarte, welche, wenn die Witterungsverhältnisse es erlauben in diesem Jahre noch eingeweiht werden soll, kein geringerer als der höchste Berg Europas, der Mont Blanc, ausersehen.

Dieses Projekt verdankt seine Entstehung den Forschungen, welche Professor Janssen, Direktor der Sternwarte von Meudon bei Paris, seit dem Jahre 1888 über die Zusammensetzung der Sonnenatmosphäre unternommen hatte. Um festzustellen, ob gewisse Erscheinungen, welche das Sonnenspektrum von der Tiefebene aus darbietet, dem Vorhandensein von Sauerstoff in der Sonnenatmosphäre zuzuschreiben seien, ober ob sie vielmehr von Sauerstoff herrühren, welcher in unserer von den Sonnenstrahlen durchkreuzten Erdatmosphäre enthalten ist, beschloß Janssen, auf erhabenen Punkten, welche eine geringere Dichtigkeit der Luft aufweisen, Beobachtungen hierüber anzustellen. Im Oktober des Jahres 1888 schaffte er seine Instrumente bis zu der Schutzhütte auf den Grands Mulets (3050 Metern), einer der Stationen auf dem Wege von Chamonix: auf den Mont Blanc. Da er schon hier bemerkte, daß die in der Ebene wahrgenommenen Hohlstreifen, welche auf das Vorhandensein von Sauerstoff in der Sonnenatmosphäre zurückgeführt wurden, sich im Spektrum bedeutend abgeschwächt hatten, so regte sich in dem Gelehrten natürlich der Wunsch, noch höher zu steigen, um zu sehen, ob mit zunehmender Höhe des Beobachtungspostens die Streifen nicht noch mehr an Stärke abnehmen würden und damit der Beweis für die Irrigkeit der bis dahin aufrecht erhaltenen Annahme sich erbringen ließe.

Aber den 84jährigen und an die Strapazen des Bergsteigens nicht gewöhnten Gelehrten hatte die Besteigung der Grands Mulets, obgleich er, wo es anging, sich einer Art Sänfte bediente, schon so sehr mitgenommen und seine körperlichen Kräfte so geschwächt, daß auch die geistige Arbeit ihm äußerst mühselig wurde. Er sah daher die Unmöglichkeit ein, noch den Gipfel des Mont Blanc, der 1800 Meter höher ist als die Grands Mulets, zu erreichen zumal da er die Sänfte längs der fürchterlich steilen Abhänge, welche im letzten Theil des Anstiegs zu überwinden sind, nicht mehr hätte benutzen können.

War aber auch bei diesem ersten Versuch seine Körperkraft erlahmt, so erlahmte deswegen seine geistige Thatkraft noch nicht. Während des darauffolgenden Winters ließ er sich nach dem Modell der Grönländer eine Art Schlitten aber ziemlich länger, bauen, der seitwärts mit einem dauerhaften Geländer versehen wurde. Vorn an demselben befand sich eine Strickleiter mit hölzernen Sprossen, an denen die Bergführer das wundersame Fahrzeug hinter sich her in die Höhe ziehen sollten.

Am 17. August 1899 begann der Aufstieg von Chamonix. Die Strecke bis zu den Grands Mulets wurde wiederum in einer Sänfte von Janssen zurückgelegt; doch war sie diesmal zwischen längeren Traghebeln und so befestigst daß sie immer in senkrechter Lage verblieb.

Von den Grands Mulets an ging es im Schlitten weiter, der, von 22 Führern und Trägern gehoben und gezogen, ausgezeichnet sich bewährte. Ging es an stellen Abhängen hin, so wurde der Schlitten von einigen Männern, welche etwas tiefer sich aufstellten und das Seitengeländer unterstützten, in wagrechter Lage erhalten; auf den schmalen Kämmen wurde sein Gleichgewicht in ähnlicher Weise erzielt; ging es an den abschüssigen Wänden hinauf, so hieben die Führer ihre Aexte in das Eis ein und befestigten daran das Seil, welches das Ende der Strickleiter bildete.

So gelangte die Karawane wohlbehalten bis zu der Schutzhütte auf den Bosses (4367 Meter). Hier mußten sie vier Tage Rast machen, da ein fürchterlicher Sturmwind über die Alpen hinbrauste,

der an Stärke demjenigen nichts nachzugeben schien, den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 603. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_603.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2017)