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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Als Frau Hinrik am nächsten Morgen ins Wohnzimmer herunterkam, traf sie das Sammetkittelchen für den kleinen Jungen bereits fertig und ihn selber darin herumstolzierend. Pauline hatte die ganze Nacht daran gearbeitet, um der guten Seele die Freude zu machen, das Kind in seinem Staatsgewand schon am nächsten Tag in den Tuileriengarten führen zu können. Und Kindermagd und Kind stiegen an diesem Tag unter den in den Anlagen promenierenden Leuten umher wie ein großer und ein kleiner Pfau. So wenig ist nöthig, um zufrieden zu sein selbst im ärmsten Dasein.

Mitten in diesen bescheidenen Anfängen eines neuen Lebens traf ein zweiter entsetzlicher Schlag die arme junge Frau. Ihr Gatte hatte sich in den so völlig veränderten Verhältnissen nie von dem Unglück erholt, das ihn niedergeworfen: finster, hoffnungslos kam er seiner mechanischen Beschäftigung nach – immer tiefer in Entmuthigung und Trübsinn verfallend, bis sich diese eines Tages zum Wahnsinn steigerten. Er mußte in eine Heilanstalt gebracht werden und starb dort nach kurzer Zeit in Tobsucht. Seine Krankheit zehrte die letzten Mittel auf, die seiner Familie von früher noch geblieben waren.

Frau van Eycken hatte sich mit Ergebung, ja fast lächelnd, in die Armuth gefügt; aber das schreckliche Ende ihres Gatten brach ihre Kraft, ihren Muth. Sie erkrankte. Ihr ganzes Nervensystem schien zerrüttet, all ihr Lebensmuth war dahin. Sie verließ das Bett nicht; jeder Lichtstrahl, jedes Geräusch verursachte ihr die heftigsten Schmerzen, und das Elend, das nackte Elend zog ein in die kleine Wohnung und in das Dasein der Armen.


3. Der Herr Nachbar.

Ja, das nackte Elend hatte sich in der armseligen Stube eingenistet, welche Pauline mit ihrem Kinde noch bewohnte. Und diesem Elend mußte sogar die ängstliche vlämische Reinlichkeit weichen, die früher der Stolz der Frau Hinrik gewesen war; denn da sich die Magd in der Stube kaum regen durfte, ohne der Kranken lästig zu fallen, so legte sich der Staub langsam auf alles und jedes und verlieh der ganzen Wohnung das eintönige Grau der Vernachlässigung. Frau van Eycken beschäftigte sich mit gar nichts mehr; sie blieb gleichgültig gegen alles um sie herum und vermochte nicht einmal die einfachsten Aufträge zu geben, ohne sofort wieder die heftigsten Nervenschmerzen zu fühlen. Auf der guten Hinrik ruhte also die ganze Last der Arbeit und Verantwortung, und manchmal überkam die starke Frau ein solches Gefühl der Hilflosigkeit, daß sie nicht anders konnte, als den Nachbarinnen von links und rechts ihr Herz auszuschütten. Diese Nachbarinnen zögerten natürlich nicht, sich um jede Kleinigkeit zu bekümmern, die das Hauswesen der armen jungen Witwe betraf, ja sie drangen mit ihrem zudringlichen Bedauern, mit ihren Rathschlägen und Hausmitteln bis in die Krankenstube, und Pauline, hilflos, wie ihr Zustand sie machte, mußte das alles wie einen wirren Traum über sich ergehen lassen.

Zuweilen glimmte ein bewußter Gedanke in dem matten flügellahmen Geist der Kranken auf: gesunden – gesunden und arbeiten! Aber würde sie das jemals wieder können? Ach, nicht für sich bat sie den Himmel um Rettung, um Genesung, nur für ihr armes Herzensgut, für ihren kleinen Knaben.

Doktor Destrée, der Armenarzt des Viertels, der Frau van Eyckens behandelte, hatte veranlaßt, daß Adrian in eine Kleinkinderschule der Nachbarschaft aufgenommen wurde. Er predigte auch – freilich meist vergebens – gegen die Besuche der unruhigen und klatschsüchtigen Nachbarinnen. Denn alles, was er thun konnte, war, seine Patientin zu unbedingter Ruhe zu vermahnen und von der Zeit und dem Zufall die Genesung zu erhoffen, die im Gemüthe beginnen mußte.

Unter den Nachbarn, die manchmal in die Wohnung der schönen jungen Kranken kamen, befand sich auch ein kleines dürres altes Männchen aus dem „noblen“ zweiten Stockwerk. Herr Mussault – so hieß er – wurde von den Nachbarinnen der höheren Stockwerke wie ein Ausnahmewesen bewundert und beknixt, und obwohl er nicht viel redete und lieber zuhörte, wurde doch jedes seiner Worte wie ein Orakel aufgenommen. Das Geheimniß dieser Glorie und dieses Ansehens bestand in der Rente von zehntausend Franken, deren sich der Alte angeblich erfreuen sollte. Die Brille auf der Nase, ein gesticktes Hauskäppchen auf dem kahlen Scheitel, die Hände in den tiefen Taschen seines Hausrockes, saß er wohl in Paulinens Zimmer und hörte das Gewäsch der ungebetenen Besucherinnen mit so unzerstörbarem Gleichmuth an, daß man nicht wußte, ob er mit dem gelangweilten Interesse eines beschäftigungslosen Rentiers oder mit dem feinen Spott eines klugen Mannes zuhöre. Wie dem auch sein mochte – er wurde mit der Zeit ein stetiger Besucher der Frau van Eyckens und wurde fast als Hausfreund betrachtet. Er saß oft stundenlang da, nur manchmal irgend ein gleichgültiges Wort sprechend oder aus einer goldenen Dose eine ungeheure Prise nehmend, und dabei schien es doch, als ob er gleichsam warte. Aber auf was?

Es giebt Fischer, die stunden- und tagelang nach ihrer regungslosen Angelschnur sehen und mit unergründlicher Geduld auf das Fischlein warten, das den Köder verschlingen soll. Und es giebt Spinnen, die ohne Bewegung stunden- und tagelang in einem dunklen Winkel lauern und auf das leise Zittern ihres kunstreichen Gewebes harren, das ihnen anzeigt, eine Fliege mit goldschimmernden Flügeln habe sich in demselben gefangen. Und es giebt Bettler, die in ihrer schlechten Kammer im zerlumpten Bett Haufen von Goldstücken verborgen haben und dennoch stunden- und tagelang an der Landstraße hocken, in Sonnenbrand und Regen, mit heiserer Stimme ihr Elend betheuernd, bis es einem vorüberwandernden gutherzigen Handwerksburschen einfällt, von seiner eigenen fröhlichen Armuth ein mitleidiges Scherflein in den zerknüllten Hut des anscheinend noch Aermeren zu werfen.

So geduldig schien der alte runzlige Nachbar vom zweiten Stockwerk zu warten und zu lauern bei der bleichen hoffnungslosen Kranken. Aber auf was?

„Wer ist denn dieser Herr Mussault eigentlich?“ erkundigte sich mit der Zeit Doktor Destrée, der den Alten hie und da am Bett seiner Patientin getroffen hatte, bei einem in der Nähe wohnenden Bekannten, der stets über alles unterrichtet war.

„Wie, das wissen Sie nicht, Doktor?“ entgegnete der Allwissende verwundert. „Herr Mussault ist ja der Besitzer des Hauses.“

„Welches Hauses?“

„Nun, des Hauses, in dem er wohnt. Aber er will nicht dafür gelten. Er meint, es lebe sich ruhiger als ‚Partei‘.“

„Also ein Sonderling?“

„Etwas dergleichen, aber ein ganz vernünftiger und pfiffiger Sonderling. Er ist sehr reich und hat sich nach einem thätigen rastlosen Leben jetzt zur Ruhe gesetzt. Er ist, wie gesagt, Eigenthümer des großen Zinshauses, überläßt aber alle Geschäfte darin seinem verläßlichen ‚Intendanten‘ und lebt nur noch seinen Liebhabereien.“

„Was für Liebhabereien kann der Mann haben, der aussieht wie die verkörperte Langeweile!“

„Sie verkennen ihn, Doktor! Herr Mussault war in seinen jüngeren Jahren einer der bekanntesten und glücklichsten ‚Unternehmer‘. Er versuchte sich in allem, was Geld einträgt, war Spekulant, Impresario, Theaterdirektor, Cirkusbesitzer, Schaubudeninhaber, Hotelier, Straßenbauer – kurz er ist ein geschäftliches Universalgenie. Er hat eine Zeitlang neuentdeckte Diamantengruben in Brasilien ausgebeutet und mit Glück. Als dieselben zu versiegen begannen, schlug er sie mit Hilfe einer großartigen Reklame sehr zu seinem Vortheil an eine Aktiengesellschaft los. Dann ging er mit einer berühmten, aber alternden Sängerin auf Reisen und wußte aus ihrem verblassenden Ruhm in den Provinzen noch viel Geld zu schlagen. Dann wieder zeigte er im ‚Cirkus Guillaume‘ dressierte Hirsche und richtete eine Kompagnie Hasen dazu ab, in Soldatenuniform sich Schlachten zu liefern. Er besaß eine Zeitlang das Theater der Mademoiselle Malaga, der Equilibristin, die sich hundertmal nacheinander auf der rechten Fußspitze drehte, ohne schwindlig zu werden – und so weiter und so weiter! Als er endlich alt und steif wurde, hinterließ er die laufenden Geschäfte seinem Sohn, Mussault dem Jüngeren, der ganz in die Fußstapfen seines Vaters tritt und dessen ‚Genie‘ geerbt hat, während der Alte ruhig von seinen Renten lebt. Aber sein immer reger Geist läßt ihm keine Ruhe. Er muß stets neue ‚Spekulationen‘ ersinnen, die sein Sohn in Scene setzt. Das ist Herr Mussault!“

„Was Sie da sagen, ist merkwürdig genug,“ meinte der Doktor sinnend. „Aber was kann die kleine Mumie so Anziehendes an meiner Patientin finden?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 608. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_608.jpg&oldid=- (Version vom 15.11.2022)