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verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Nr. 38.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



„Um meinetwillen!“

Novelle von Marie Bernhard.
 (5. Fortsetzung.)
7.

Professor Gregory, obgleich weit davon entfernt, eingebildet zu sein, war bisher im ganzen mit sich zufrieden gewesen. Er beobachtete gern und nicht ohne Geschick, er sah, wie zahllose Menschen, die es ganz gut hätten haben können, sich ihr Dasein vergällten durch kleinliche Eitelkeit, übergroße Empfindlichkeit, Ehrgeiz und Neid, ganz zu schweigen von anderen großen Leidenschaften, die aus den vernünftigsten Leuten oft lächerliche oder bedauernswerthe Narren machten; er sah, wie die Menschen sich aus diesen oder jenen Gründen, die tief in ihrem Charakter wurzelten, Gesundheit und Karriere, Lebensfreude und Behagen zerstörten, wie sie oft kaum anders konnten, als dies thun, weil ihr Dämon, ihr Verhängniß, eine Macht in ihnen, die stärker war als ihr Wille, sie vorwärts trieb – und Paul Gregory hatte selten ein verdammendes Wort für solche, seine Bekannten meinten sogar, er urtheile zu mild und finde für alles eine Entschuldigung. Der Professor pflegte dann mit den Achseln zu zucken und zu sagen: Homo sum! Nichts menschliches acht’ ich mir fremd! Wenn ich selbst gewissen Versuchungen nicht unterliege, so kommt das eben daher, weil es für mich keine Versuchungen sind – die Steine, über die andere zu Fall kommen, kann ich mit Seelenruhe umgehen, ich habe kein heißes Blut, keine brausenden Leidenschaften, kein zügelloses Temperament. Dinge, von denen mir meine Vernunft sagt, daß sie mir versagt seien, strebe ich nicht an – es giebt aber Menschen, denen gerade die verbotene Frucht, das unerreichbare Ziel eine Lockung ist. Sie thun mir leid, aber verdammen kann ich sie darum nicht, es liegt ihnen im Blut. Ich habe körperlich und geistig normale, verständig denkende Eltern gehabt, und ich bin ihnen für das Erbtheil, das sie mir an Veranlagung und Gesinnung hinterlassen haben, noch dankbarer als für das kleine Vermögen, das sie für mich sammelten. Himmelstürmende Genies und große Talente werden aus solchen Naturen, wie ich eine bin, nicht hervorgehen, aber es ist immerhin etwas werth, ein anständiges Mittelmaß zu erreichen, vielleicht noch etwas darüber hinauszuwachsen – und diejenigen, die ganz oben sind, neidlos bewundern, Gott sei Dank, das kann ich!“

Diese Philosophie, verbunden mit einem ehrlichen Respekt vor der Wissenschaft und einer nicht gewöhnlichen Kraft und Freudigkeit zur Arbeit, hatte dem Professor bis jetzt sehr gute Dienste gethan und ihm glatt durchs Leben geholfen. Mit unklaren Gefühlen hatte er sich nie abgegeben, er sah in seinen inneren Menschen hinein wie in ein offenes Buch, das überall mit einer leserlichen Schrift versehen war. Wenn er jetzt auf einmal an dunkle Stellen kam – sollte er darüber nicht verblüfft sein?

Irgend etwas stimmte da nicht, irgend etwas war aus dem Gleichgewicht gekommen! Seit wann? Wodurch? Er wußte es nicht

Margherita.
Nach einem Gemälde von G. Papperitz.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 629. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_629.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)