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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Aufbleiben bis zwei oder drei Uhr abzubringen. Sie wollte den Kometen sehen oder vielmehr, sie glaubte, daß es mich amüsieren würde, ihn zu sehen, und hatte zu diesem Zweck einen Astronomen nebst Fernrohr bestellt.“

Am andern Morgen, als Walpole die Augen öffnete, fand er schon einen Brief, den sie ihm noch vor Schlafengehen geschrieben hatte! Umsonst suchte er solche Flammen etwas einzudämmen, er entsetzte sich geradezu, daß man ihn in seinem Alter „reizend“ finde, es half alles nichts, sie ernannte ihn um seiner großen Weisheit willen zu ihrem Vormund und drohte ihm, als er nach England zurückkehrte, wo er als Herr eines schönen Landsitzes ein sehr angenehmes Leben führte, in einem scherzhaften Brief, sie werde ihm nachfolgen, in den Gassen von London ihre Liebe für ihn proklamieren, sich in seinem Hause installieren und nicht mehr fortgehen.

„Nehmen Sie schnell das Riechfläschchen, theurer Vormund, denn Sie sind nahe daran, in Ohnmacht zu fallen. Und doch steht Ihnen dies alles sicherlich bevor, wenn Sie mir nicht zweimal in der Woche schreiben.“

Und er schrieb, ja, er kam in den folgenden Jahren nochmals für längere Zeit, einzig und allein, um seine alte Freundin zu besuchen, die dann auch ohne Rücksicht auf Tages- oder Nachtzeit bei ihm erschien und mit ihrer gewohnten Bestimmtheit erklärte, es liege nichts Unschickliches darin, daß sie seiner Toilette beiwohne, da sie ja nichts davon sehen könne. Sie ward nicht müde, ihn anzustaunen und zu beneiden, daß er als gesunder natürlicher und thätiger Mensch den „ennui“ nicht kenne, und war geneigt, in ihm eine Ausnahme von dem ihr so verächtlichen Menschengeschlecht zu erblicken, während er in Wirklichkeit mit seinen englischen Gewohnheiten und Anschauungen eine Ausnahme nur unter den verweichlichten und blasierten Franzosen war. Er hatte weite Reisen gemacht und nach der Rückkehr seinen Landsitz Strawberry Hill mit den mitgebrachten Gegenständen zu einer Sehenswürdigkeit umgestaltet. Ohne jedes Stilbedenken vereinigte er hier ein Gemisch von Antike und Gothik, Renaissance und Rokoko, welches der vornehmen Welt als der Inbegriff alles Schönen erschien. Nicht der kleinste Anziehungspunkt war die Persönlichkeit des Hausherrn, der sein skeptisches Junggesellenthum aufrecht erhielt trotz aller wohlgezielten Angriffe aus schönen Augen und mit tadelloser Liebenswürdigkeit den Pflichten des Wirthes nachkam, ohne sich dabei in Fesseln schlagen zu lassen.

Es war also kein Wunder, wenn auch Madame du Deffand diesen unerhörten Mann für die größte Merkwürdigkeit des Jahrhunderts ansah und alle ihre Gedanken ihm widmete. Die sechzehn letzten Jahre ihres Lebens sind einzig von diesem Interesse bewegt; was sonst nebenher ging, war für sie bloßer Schatten. Und doch war um diese Zeit ihr Salon der einflußreichste von allen. Diplomaten, Minister, Fürsten und Könige eilten, sich der Marquise vorzustellen, Voltaire kam, nicht minder Joseph II. bei seinem Pariser Aufenthalt, was irgend auf Beachtung Anspruch machte, drängte sich um die alte blinde Frau. Ihr einziges Interesse aber war „der Mann von Eisen und Schnee“, vor dessen strengen Briefen sie zitterte, dem sie hundertmal Besserung ihrer Ausdrucksweise, Unterdrückung ihrer Zärttichkeit gelobte, um dann zum Schluß zu sagen: „Können Sie denken, welche Narrheit mir jetzt durch den Kopf schießt? Wenn es möglich wäre, daß Ihre Briefe den Klang Ihrer Stimme hätten, wie glücklich würde ich sein ...“

Am Tage seiner letzten Abreise schreibt sie dem Angebeteten: „Adieu! Das Wort ist sehr traurig. Vergessen Sie nicht, daß Sie hier ein Wesen zurücklassen, von dem Sie zärtlich geliebt werden und dessen Gtück und Unglück allein in dem besteht, was Sie von ihm denken.“

Es liegt eine wehmüthige Ironie in diesen Schlußworten eines Lebens, das für jenes ganze Zeitalter das Spiegelbild abgeben kann. Es ging zu Ende mit der alten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Die lustige Frivolität, das schamlose Laster, die Emancipation von allen Schranken, der Hohn über das Gefühl und der ausschließliche Kultus des Geistreichthums, es hatte sich alles durchgelebt und überlebt. Und dem alten und ewigen Gesetze der Menschennatur zufolge kommt, wenn die Zustände sich ins Einseitige und Unleidliche zugespitzt haben, unversehens ein ungeheurer Rückschlag, der als Sturmfluth hereinbricht und, zurückweichend, eine völlig neue Gestaltung hinterläßt. Der Mann dieser Umwälzung war Rousseau. Sein Ruf nach Rückkehr zur Natur und Einfachheit lieh dem stillen Verlangen von Tausenden die Stimme, und urplötzlich erklangen die verpönten Worte: Empfindung, Liebe, Leidenschaft aus dem Munde einer Generation, die kaum einen Zug noch mit der vorigen gemein hatte. Die alten Gestalten verblaßten neben dem begeisterten jungen Frankreich, das mit stürmischem Herzschlag der großen Revolution entgegenstrebte. Als die letzte der Geistesvirtuosinnen einer versunkenen Zeit starb 1784 die Marquise du Deffand dreiundachtzigjährig; voll Ekel und Abscheu am Leben und doch in Furcht vor dem Tode, der sich übrigens ihrer erbarmte und sie sanft hinwegnahm.


Das schöne Limonadenmädchen.

Erzählung von E. M. Vacano.0 Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

     (Schluß.)

Das Büffett stand mitten im großen Saal des Kaffeehauses; es war eine Art vergoldeter Ladentisch, hinter dem sich als Sehenswürdigkeit ersten Ranges der Thron Napoleons befand mit seinem veilchenblauen Sammetüberzug und seinem dickvergoldetem, von einem Adler überragten Gestell. Für die hübschen, in seidenen Kreuzbandschuhen steckenden Füßchen der Büffettdame war ein weißseidenes Fußbänkchen hingestellt. Als Pauline eintrat, senkte sie verwirrt und geängstigt die Augen vor den unzähligen Reflexbildern ihrer Gestalt, welche ihr die Riesespiegel rundum entgegenstrahlten, und war froh, als sie sich auf ihren Platz niederlassen konnte. Doch hier begann eine neue Qual für sie. Keine Möglichkeit, sich den zahllosen Blicken zu entziehen, die sie von allen Seiten anstarrten; denn der Saal war gesteckt voll, und hinter der Glasverkleidung, welche das Kaffeehaus von der Passage des Palais-Royal trennte, hatte sich ebenfalls eine Menge Neugieriger gesammelt und starrte durch die Scheiben. Frau van Eyckens konnte nicht begreifen, was diese Ansammlung bedeuten sollte und warum sich ganz Paris um sie herum zu drängen schien. Sie wußte nicht, daß schon seit acht Tagen alle Zeitungen wimmelten von Notizen über den Thron Napoleons und über das „schönste Mädchen der Welt“, die Ur-Urenkelin von Rubens, die man als Büffettdame gewonnen habe.

Inmitten der Aufregung und des Gedränges, das sich um sie her entfaltete, entledigte sie sich maschinenmäßig ihrer Aufgabe als „Einschreiberin“ und flüchtete sich in diese Beschäftigung wie in ein Asyl vor der zudringlichen Neugierde und vor ihrer eigenen Verwirrung. Ueberwacht von dem alten Herrn Mussault, der sich triumphierend hinter ihr aufgepflanzt hatte, beging sie keine einzige Irrung.

Als endlich gegen ein Uhr nachts die Menge im Café und vor den Glasscheiben draußen sich zurückgezogen und zerstreut hatte, trat der junge Mussault auf die ermüdete, fast vernichtete Frau zu mit einer gestempelten Schrift. „Wir hatten tausend Franken jährlich vereinbart, Madame,“ sagte er mit einem artigen freundlichen Lächeln. „Hier ist aber ein Vertrag, der Ihnen das Doppelte dieser Summe sichert, wenn Sie sich verpflichten, drei Jahre hindurch bei mir zu bleiben.“

„Zweitausend Franken sind nicht genügend,“ unterbrach ihn sein Vater mit Bestimmtheit. „Du hast mit Hilfe dieser Dame heute allein soviel eingenommen. Du wirst ihr also viertausend Franken zahlen, und ich verschaffe Dir ihre Unterschrift auf fünf Jahre.“

Er nahm den Vertrag aus den Händen seines Sohnes, brachte selber die betreffenden Aenderungen in demselben an und ließ ihn sowohl von Pauline wie von seinem Sohn unterzeichnen. Dann begleitete er die junge Frau nach Hause.

Allein zurückgeblieben in dem geschlossenen Lokal, erging sich das Ehepaar Mussault in gegenseitigen Glückwünschen. „Sechstausend Franken Einnahme an einem Tage!“ rief der Mann stolz.

„Und Du botest ihr einen Pappenstiel, der sie beinahe unschlüssig gemacht hätte, ihre Unterschrift zu geben, wenn Dein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 643. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_643.jpg&oldid=- (Version vom 7.12.2022)