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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Der Angeredete sah bestürzt und rathlos auf Frau von Eyckens

„Nun, Ihre Antwort, Madame?“ wendete sich der Stutzer nach einer kurzen Pause an Pauline.

Diese maß ihn nur mit einem verächtlichen Blick und fuhr anscheinend gleichgültig fort, Einträge in ihr Buch zu machen. Aber eine Thräne der Scham und des Zornes rollte langsam über ihre Wange und benetzte das Papier. Von diesem Augenblick an veränderte sich plötzlich das ganze Wesen des jungen Mannes – er machte eine höfliche Verbeugung und entfernte sich.

Am nächsten Nachmittag war er einer der ersten, die in dem Kaffeehaus erschienen; er grüßte Pauline respektvoll und nahm in einer Ecke des großen Saales Platz, von wo er unauffällig das Büffett übersehen konnte. Und das setzte er einige Wochen hindurch fast täglich fort. Dann erhielt Pauline mit einem Mal ein zweites Billett, das sie zwischen den Blättern ihres Kassenbuchs fand; es lautete: „Mein Herz, mein Vermögen und mein ganzes Leben für einen Blick!“

Während sie las, bemerkte sie in einem der Spiegel, daß die Augen des Fremden aus seiner Ecke fast ängstlich auf sie gerichtet waren, Sie zuckte die Achseln und warf das Papier, ohne es zu zerreißen, in den Papierkorb an ihrer Seite. Als der junge Mann dies bemerkte, legte er sein Gesicht in die aufgestützten Hände und schien tief betrübt.

Kurze Zeit darauf traten einige junge Gardeoffiziere, die just von einem Regimentsdiner kamen, an das Büffett und begannen, der jungen Frau Komplimente zu machen, die von Minute zu Minute zudringlicher wurden. Aber plötzlich ward der lauteste Witzler von dem jungen Mann, der hastig aus seiner Ecke herbeigeeilt war, kräftig am Arm gefaßt und aus dem Kaffeelokal hinausgezerrt. Das alles spielte sich so blitzschnell ab, daß die anderen Offiziere gar nicht eingreifen konnten.

Pauline erschrak. Was für Folgen mochte der Unbesonnene zu gewärtigen haben! Und was hatte ihn bestimmt, für die Büffettdame einzutreten, die er doch selbst durch seine Briefe beleidigt hatte? Wollte er diese Beleidigung durch seine ritterliche That vergessen machen? Denn ritterlich war sein Verhalten gewesen, das konnte Pauline nicht leugnen. Und wenn er nun von dem Offizier gefordert, verwundet, getötet wurde – ihretwegen getötet! Eine zitternde Angst ergriff sie. Sie verbrachte eine schlaflose Nacht, nur immer an die Gefahr des Mannes denkend, der so kraftvoll für sie eingetreten war.

Am nächsten Tag wartete sie voll schmerzlicher Ungeduld auf sein Erscheinen im Saal. Aber die Stunde, zu der er regelmäßig zu kommen pflegte, ging vorüber, und er blieb aus.

Er blieb aus, nicht nur an diesem Tag, sondern auch an den folgenden, eine ganze Woche hindurch. Nun konnte sie nicht mehr daran zweifeln, daß ihm sein Eintreten für ihre Ehre eine schwere Wunde, vielleicht gar den Tod eingetragen hatte. Sie erkundigte sich hoffend und fürchtend zugleich nach seinem Verbleib, allein niemand vermochte ihr Auskunft zu geben.

Zwei Monate verstrichen ihr so in Ungewißheit und Bangen, zwei Monate, während deren der Gedanke an den Fremden, wie sie sich fast mit Beschämung gestand, stets ihre Seele beschäftigte.

Da, an einem trüben Nachmittag, trat er wieder in das Lokal und begab sich sogleich an seinen gewohnten Platz am entferntesten Ende desselben. Pauline konnte nur mit Mühe einen Ausruf der Freude unterdrücken und beobachtete ihn mit steigender Bewegung. Er war sehr blaß, sehr abgemagert und schien auf nichts um sich her zu achten. Schon nach kurzer Zeit erhob er sich wieder und schritt der Thür zu, wobei er sich, wie Pauline jetzt erst bemerkte, auf einen Stock stützte.

Länger hielt es die junge Witwe nicht mehr an ihrem Platz aus. Sie verließ hastig das Büffett und trat auf ihn zu. „Ich habe Ihnen noch nicht meinen Dank aussprechen können, mein Herr,“ sagte sie mit zitternder Stimme. „Aber glauben Sie mir, ich werde es nie vergessen, daß Sie –“

„Ich habe nur meine Schuldigkeit gethan,“ unterbrach er sie abwehrend, indem er sie mit einer achtungsvollen Verbeugung begrüßte. „Jeder andere an meiner Stelle hätte gewiß ebenso gehandelt.“ Damit verneigte er sich nochmals und verließ den Saal.

Vom nächsten Tag an nahm er seine stille schweigsame Gewohnheit wieder auf; er richtete niemals mehr ein Wort an die Büffettdame und begnügte sich damit, sie beim Kommen und Gehen höflich zu grüßen wie die übrigen Stammgäste auch.

Eines Abends erschien, wie das von Zeit zu Zeit geschah, Doctor Destrée in dem Kaffeehaus. Als guter alter Bekannter trat er auf Pauline zu, setzte sich neben sie, plauderte mit ihr und verabschiedete sich nach einer halben Stunde mit einem herzlichen Händedruck.

Als er den Saal verlassen hatte und durch die Glasgalerie des Palais-Royal schritt, fühlte er plötzlich eine Hand auf seinem Arm. Er wandte sich um und sah sich einem Fremden gegenüber.

„Mein Herr,“ sagte dieser, indem er den Hut lüftete, „Sie sind, wie ich gesehen habe, ein guter Bekannter der Dame, welche das Büffett dieses Kaffeehauses verwaltet?“

„Ja, mein Herr.“

„Ich bitte Sie, setzen Sie das, was ich Sie fragen möchte, nicht auf Rechnung müßiger oder aufdringlicher Neugierde. Ich habe ernste ehrenhafte Gründe zu den Fragen, die ich an Sie richte – mein Wort darauf!“

„Gut,“ erwiderte der Arzt erstaunt, „so fragen Sie!“

„Ist das Herz der Madame Pauline – ich kenne sie nur unter diesem Namen – noch frei?“

Der Arzt schaute den Fremden mißtrauisch an. Er wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Endlich sagte er langsam: „Ich glaube nicht, daß sich die junge Witwe für irgend einen Mann interessier.“

„Sie hat also niemals eine besondere Theilnahme geäußert für irgend einen der ständigen Besucher des Kaffeehauses?“

„Niemals. Das heißt, sie hat mir wohl einmal von einem jungen Herrn erzählt, der sie gegen ein paar zudringliche Gardeoffiziere in Schutz nahm. Aber dieses Interesse ist ganz natürlich, da sie fest überzeugt ist, jener junge Mann sei infolge seines Einstehens für sie im Duell schwer verwundet worden.“

„Ah! – Doch noch eine Frage – eine unbescheidene vielleicht, aber eine redlich gemeinte: in welchen Lebensverhältnissen hat sich die Dame befunden, ehe sie ihre jetzige Stellung einnahm? Antworten Sie mir offen und ohne Rückhalt, ich bitte Sie herzlich darum. Sie sehen, ich halte Sie für einen Ehrenmann – sonst würde ich diese Frage nicht an Sie stellen.“

„Die Vergangenheit der Dame ist tadellos, mein Herr. Allein ich würde durch nähere Mittheilungen darüber eine Indiskretion begehen.“

„Ich heiße Gustav Matthison – vielleicht ist Ihnen der Name dieser dänischen Familie irgendwie bekannt und erwirbt mir Ihr Vertrauen. Ein Großonkel von mir, Jakobus Matthison, hat sich in der Geschichte der medizinischen Wissenschaft einen Ruf erworben.“

„Jakabus Matthison! Seit langer Zeit schon steht dieser Name bei mir in höchster Achtung – denn ich selber bin Arzt, mein Herr – Doktor Destrée. Und jetzt bitte ich Sie, meinen Arm zu nehmen. Ich will Ihnen kurz erzählen, was ich über das traurige und tapfer getragene Schicksal der Freundin meiner Familie, der Frau Pauline van Eyckens, weiß.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 645. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_645.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2023)