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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Nr. 39.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



„Um meinetwillen!“

Novelle von Marie Bernhard.
 (6. Fortsetzung.)

Annaliesens Großmutter,“ fuhr Claassen nach einer Weile fort, „ist ja wohl eine Verwandte von Dir – sag’ ’mal, die ist doch offenbar verrückt?“

Gregory mußte lachen. Wenn die alte Excellenz dies Urtheil gehört hätte! „Verrückt? Erlaube ’mal, das ist ein bißchen stark –“

„Aber Mensch, wie willst Du sonst diese Art von Erziehung erklären? Nicht einen blanken Heller im Vermögen, lediglich auf ihre Pension angewiesen – das deutet die Kleine wenigstens so an – und läßt dies Geschöpf aufwachsen wie eine Blume des Feldes, in der naiven Zuversicht, der himmlische Vater werde sie schon ernähren. Es ist ja ein bildhübsches Ding, und als ich sie neulich fragte, ob sie schon ’mal hätte heirathen können, da blitzten ihr die Augen vor solchem Uebermuth, daß ich denken mußte: holla, dahinter steckt etwas, wenn sie auch nicht mit der Sprache herauswollte. Aber sie hat viel Besonderes an sich, den ersten Besten, der nach ihrem reizenden Persönchen die Hand ausstreckt, nimmt die noch lange nicht, bloß weil sie arm und ohne Zukunftsaussichten ist. Also, was soll werden. Mit der Malerei ist das nichts, sie pinselt ganz niedliche Sächelchen zusammen, wie es all die Mädel thaten, die wir bei uns hatten, aber Broterwerb, Beruf – kein Gedanke dran! Von praktischer Thätigkeit sonst keine Ahnung! Sie ist ja riesig gefällig und will überall beispringen, aber dabei kommt es dann heraus: sie weiß nicht, wie kochendes Wasser aussieht und wie man Kartoffeln behandelt, sie kann keine Naht nähen und keinen Strumpf stricken, sie muß sich das Haar in einen herunterhängenden Zopf flechten, weil sie es nicht gelernt hat, sich selbst zu frisieren. Nun bitte ich Dich! Ein armes Mädchen zu erziehen wie eine Prinzessin, und nach dem Tode der Großmutter kann sie sehen, wo sie unterschlüpft! Unverantwortlich ist das, und bei der Alten ist ’ne Schraube los, dabei bleib’ ich! Klug ist die Kleine, scheint auch ganz hübsch gelernt zu haben, namentlich in Sprachen – deshalb machte ich ihr vor einigen Tagen den Vorschlag, ob sie nicht ein Seminar besuchen und das Lehrerinnenexamen machen wolle … hat sie mich ausgelacht! Sie ließ mich gar kein Wort weiter dazusetzen … immer gelacht und gelacht, beinah’ bis zu Thränen – ich bin ganz verdutzt gewesen, sag’ ich Dir! Und jetzt lachst Du auch! Was in aller Welt –“

„Entschuldige!“ Paul suchte sich zu sammeln. „Es kommt mir nur so wunderlich vor – Annaliese von Guttenberg als Lehrerin!“

„Herrgott, ja, mir scheint sie auch die geborene Salondame, aber damit ist es doch nun einmal nichts! Die Kinder lieben sie, hängen sich an sie wie Kletten; man hat seine Noth, sie von ihr abzuwehren. Würde hat sie freilich keine, aber sie ist noch so jung, und das kann ich aus Erfahrung sagen: mit der Würde allein kommt man auch nicht weit. Die Kinder müssen ein Herz für uns haben, wie wir

Herbstfrüchte.
Nach einem Gemälde von A. Delobbe.
Photographie im Verlage von Braun, Clement u. Cie. in Dornach.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 649. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_649.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)