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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Gefängniß nach dem Sitzungssaal gebracht. Der Weg führte über die lange breite Brücke, welche die Stadt mit der Kaserne verband, und währte im ganzen etwa zehn Minuten. Mehr als einmal durchblitzte den Gefangenen auf dem kurzen Gange der Gedanke, einen Fluchtversuch zu wagen und seine Rettung der Schnelligkeit seiner Füße anzuvertrauen. Aber das Aussichtslose eines solchen Wagestücks hielt ihn zurück. Ehe er auch nur zehn Schritte gemacht haben würde, hätten ihn seine Wächter niedergeknallt!

Die Verhandlung begann um drei Uhr nachmittags und zog sich bis gegen sieben Uhr hin. Dem Gefangenen, dessen Lebensglück sich hier entschied, wurden die Stunden zur Ewigkeit. Endlich, endlich erfolgte der Spruch. Er lautete auf sechs Jahre Gefängniß, „nur“ auf sechs Jahre, weil man den Anlaß zu der That als mildernden Umstand hatte gelten lassen.

Sechs Jahre! Den Verurtheilten durchschauerte es vom Kopf bis zu den Füßen. Das war ebenso gut, als hätte man ihn zum Begrabenwerden bei lebendigem Leibe verdammt. Und plötzlich überkam ihn kalte Ruhe, die Ruhe des Verzweifelten, der nichts mehr zu verlieren hat. Sein Entschluß war gefaßt: fliehen oder sterben!

Auf dem Wege von der Kommandantur zur Brücke machte er seinen Plan, einen tollkühnen wahnsinnigen Plan, aber es war der einzige, der die Rettung wenigstens nicht ganz ausschloß.

Der Transport befand sich ungefähr auf der Mitte der Brücke; gleichmüthig zogen die beiden Soldaten mit dem Gefangenen vorwärts. Mit einem verstohlenen prüfenden Blick sah sich dieser um. Dort unten rechts, stromabwärts, lag die Dammvorstadt, durch Wiesen und Gärten vom Fluß getrennt. Dort weilten Mutter und Schwester in Verzweiflung, den Sohn und Bruder als einen Verlorenen beklagend. Noch einmal athmete er tief auf. Dann ein Sprung an den Brückenrand und blitzschnell, noch ehe seine Begleiter recht zum Bewußtsein gekommen waren, hatte er sich in stürmischem Anlauf auf das Geländer und von da kopfüber in die Tiefe geschwungen.

Als der Flüchtling aus dem Wasser wieder auftauchte, lagen die beiden Wächter am Geländer der Brücke in Anschlag; sobald sie den Kopf des Schwimmenden erblickten, gaben sie Feuer. Aber die bereits hereingebrochene Dämmerung und die Erregung verhinderten ein genaues Zielen – oder war es das Mitgefühl mit dem um sein Leben ringenden Kameraden, das ihre Hand unsicher machte?

Auf der Brücke entstand ein Auflauf, ein hastiges Schreienn und Fragen. Scharen von Vorübergehenden sammelten sich, um in die Tiefe nach dem kühnen Schwimmer hinab zu spähen, während die beiden Soldaten, von einigen Neugierigen begleitet, dem Ende der Brücke zurannten, um im Kahn die Verfolgung aufzunehmen. Allein der Flüchtling, ein geübter Schwimmer, hatte schon einen großen Vorsprung, begünstigt von der schnellen Strömung des Flusses, und als die Soldaten endlich in Begleitung eines Schiffers vom Lande abstießen, hatte er schon unweit der Dammvorstadt das Ufer erreicht. In vollem Lauf durcheilte er die Wiesen und Gärten; obgleich ihm die nassen Kleider schwer am Leibe hingen. Keine Furcht erfüllte ihn, sondern nur der Gedanke an die mit jedem Pulsschlag, mit jedem Athemzug ersehnte Freiheit.

Von der Hofseite her näherte er sich dem Hause seiner Mutter. Vorsichtig spähend, um keinem zu begegnen, tappte er sich in das Haus hinein, und nun stürmte er in das kleine Wohnzimmer. Ein lauter Schrei der entsetzt auffahrenden Frauen empfing ihn. Mit weit aufgerissenen Augen starrten sie den in triefenden Kleidern, erhitzt, athemlos vor ihnen Stehenden an. In fassungsloser Ergriffenheit ohne ein Wort hervorbringen zu können, sank die erschütterte alte Frau vor ihrem Stuhl auf die Knie nieder und streckte die Arme voll Sehnsucht und Hilflosigkeit nach dem geliebten Sohn aus. Dieser sprang hinzu und zog die Hinfällige empor.

„Fasse dich Mutter!“ rief er, die alte Frau liebevoll stützend. „Schnell, schnell! Sechs Jahre haben sie mir gegeben, sechs Jahre! Ich bin ihnen entwischt, die Verfolger sind hinter mir! Um Gotteswillen, faßt Euch! Meinen Civilanzug, Klara! Rasch, ehe es zu spät ist!“

Und schon hatte er sich der nassen Uniform entledigt, und während die Schwester, ohne ein Wort zu erwidern, in das Hinterzimmer eilte, um die Kleider des Bruders zu holen, legte dieser trockene Wäsche an, um dann in fliegender Hast in den Civilanzug zu schlüpfen. Die alte Frau half ihm, so viel sie konnte, obgleich sie sich in einem Zustand tödlicher Aufregung befand. Aus ihrem Gesicht war jede Spur von Farbe gewichen, ihre Glieder zitterten wie im Fieber.

„Franz, Franz, was wirst Du nun anfangen? Wovon wirst Du leben?“

Unter Thränen mußte er lächeln. „Das ist das Wenigste, Mutter. Wenn ich nur erst im Ausland wäre! Vor dem Verhungern fürchte ich mich nicht.“

„Herr des Himmels – so weit, ins Ausland?“ Und sie eilte, so schnell ihre wankenden Beine sie tragen wollten, an den Sekretär ihres verstorbenen Mannes, zog aus einem der Fächer die goldene Uhr hervor, die Franz von dem Vater geerbt hatte, aber in der Kaserne nicht tragen mochte, und reichte sie ihm; dann wollte sie ihm mit aller Gewalt alles im Hause vorräthige Geld aufdrängen. Aber er nahm nur einen Theil davon und wies das Uebrige standhaft zurück. Und nun zog er Mutter und Schwester an seine Brust zum letzten Abschiedsgruß. Für eine kurze Sekunde packte auch ihn fassungslose Weichheit, ein Schluchzen erschütterte seine Brust. Dann nahm er alle Kraft zusammen.

„Sei ruhig, Mutter, sei stark! Ihr werdet bald von mir hören und dann kommt Ihr mir nach, Duu und Klara – und alles ist gut!“

Sie klammerte sich an ihn, als wollte sie ihn nicht von sich lassen, und er mußte sich fast mit Gewalt von ihr losreißen.

„Bleib’ brav, Klara, bleib’ gut! Tröste die Mutter!“

Und schon stand er an der Thür. Da fiel ihm noch etwas ein. Sich umwendend, deutete er auf die nassen Uniformstücke, die am Boden lagen. „Verstecken – im Garten! In den Fluß damit! Und leugnet, daß ich hier gewesen bin!“ Dann war er auf dem Flur, jetzt mit raschen Sätzen in den Hof, in den Garten, auf die Wiesen zurück und von da im Bogen um die Stadt herum, der Landstraße zu.

Während er bald in athemlosem Laufe, bald langsam vorsichtig spähend, vorwärts drang, überlegte er. Am sichersten schien es ihm, ein paar Stunden zu Fuß zu gehen und dann, noch in der Dunkelheit der Nacht oder mit dem ersten Morgengrauen, auf einer der nächsten Stationen die Eisenbahn zu besteigen. Wenn dann nicht irgend ein tückischer Zufall seinen Verfolgern zu Hilfe kam, so durfte er sich als gerettet betrachten.

Als er die Landstraße betrat, hielt er erschöpft eine Weile an. Mit fieberhafter Aufmerksamkeit horchte er nach der Stadt zurück. Da hörte er ganz deutlich Pferdegetrappel, das sich rasch näherte. Eine Kavallerie-Patrouille, die ihn verfolgte! Er kauerte sich in ein nahes Gebüsch und lauschte mit angehaltenem Athem. Nun unterschied er, daß es ein Wagen war, der auch nach wenigen Minuten sichtbar wurde. Eine ungestüme Freude loderte in dem Flüchtling auf – es nur ein Bauer, der aus der Stadt nach dem Heimathdorf zurückfuhr und auf Wagners Zuruf rasch anhielt. Nach einigem Hin- und Herreden ließ er den Fremden neben sich auf dem Strohsack Platz nehmen, und vorwärts ging die Fahrt durch die immer dunkler werdende Nacht „Gerettet!“ jubelte es in der Brust des Deserteurs, und ein wonniges Gefühl der Sicherheit wollte ihn überkommen. Da ertönte mit einem Mal rechts vom Felde her lautes Rufen – „Halt!“ schallte es gebieterisch herüber. Unwillkürlich gehorchend, zog der Bauer die Zügel an. Und noch ehe Wagner sich besinnen konnte, hatten auch schon drei Gestalten den Straßengraben überspringend, den Wagen umstellt, drei Gestalten mit Helm und Gewehr – eine Patrouille, wahrscheinlich von seiner Kompagnie, die auf die erste Meldung von seiner Flucht allen anderen vorausgeeilt war. Wie gelähmt saß der Flüchtling da; wie im Traume erkannte er in der Stimme des Vordersten, der jetzt dicht vor den Bauer hintrat und ihn fragte, ob er nicht einen fliehenden Soldaten in Waffenrock und Mütze, einen Deserteur gesehen habe, die seines Korporalschaftsführers. An allen Gliedern bebend, saß Franz da, sein Schicksal erwartend, und er wäre widerstandslos gefolgt, wenn man sich in diesem Augenblick seiner bemächtigt hätte. Aber während der Bauer die ihm vorgelegte Frage verneinte und Auskunft über sich gab, raffte sich Franz auf. „Widerstand bis zum letzten Blutstropfen!“ gelobte er sich. Er biß die Zähne zusammen und machte sich zum Sprunge bereit. Die glühenden Augen heftete er fest auf das Gewehr des Unteroffizier, das dieser unterm Arme trug. Sobald ihn der Vorgesetzte erkannte, wollte er sich mit unwiderstehlicher Kraft auf ihn werfen, ihm

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 691. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_691.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2023)