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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

anzugehen, brachte er nicht über sich. Er schrieb an den Kameraden, an den er den hohen Betrag verloren hatte, daß er ihn mit Geld nicht bezahlen könne, er bezahle daher mit seinem Leben. Und so ging er in den Tod. Da er die Strafe so unerbittlich selbst an sich vollzog, hielt ich es für meine Pflicht ihm zu vergeben, was er gefehlt hat. Und damit niemand ein Recht habe, sein Andenken zu verunglimpfen und seine Ehre in den Staub zu treten, nahm ich seine Schuld auf mich und tilgte sie zur festgesetzteu Frist.“

Der Major schwieg, tief aufseufzend, und strich sich mit der Hand über die Augen, in denen es feucht schimmerte. Dann schloß er in festem Ton: „Und nun mein Sohn, weißt Du, warum ich spare und knausere und Zinsen auf Zinsen häufe.“

Mit wogender Brust, aufs tiefste ergriffen, hatte der Lieutenant den Schluß des Berichtes angehört. Jetzt sprang er auf und stürzte zu seinem Vater hin. In überströmender Zärtlichkeit haschte er nach der Hand des überrascht Aufblickenden und küßte sie stürmisch.

*  *  *

Am andern Tage schon lief Erwins Urlaub ab. Als er Mutter und Schwestern zum Abschied umarmte, mußte er sich Gewalt anthun, um seine Ergriffenheit zu verbergen. Er hatte die Empfindung, als sage er ihnen für lange, für immer Lebewohl.

Der Vater begleitete ihn zur Bahn. Schweigend schritten sie nebeneinander her. Kurz vor dem Bahnhof wollte der Major noch einmal auf das gestrige Gespräch zurückkommen, um von dem Sohn nähere Angaben über seine Schulden zu bekommen, aber Erwin wich aus und heuchelte Sorglosigkeit. Er werde die Sache schon selbst in Ordnung bringen – damit brach er kurz ab und fing an, von anderen Dingen zu sprechen. Bis zum Abgang des Zuges plauderte er in einem fort, mit sprudelnder Lebhaftigseit, um jeden Versuch des Vaters, ihn zu weiteren Bekenntnissen zu bewegen, im Keim zu ersticken.

Erst als er allein in dem Coupé war, vor dessen Fenstern Feld und Wald vorüberflogen, gab er sich rückhaltlos der Verzweiflung hin. Sein Schicksal war besiegelt! Verloren! Keine Rettung! Er schloß die Augen und lehnte sich in die Polster zurück, um zu schlafen, um nicht denken zu müssen. Aber vergebens. Der Schlummer, den er herbeisehnte, kam nicht, und so sehr er sich auch vornahm, nicht zu grübeln und zu sinnen, die eine folternde Frage drang unablässig auf ihn ein und ließ ihm keine Ruhe: was nun? was nun?

Als er in seiner Garnison eintraf, war er froh, daß die Dämmerung schon hereingebrochen war. So konnte er, ohne gesehen zu werden, in seine Wohnung gelangen.

Jänicke, der den Lieutenant mit seinem freundlichsten Gesicht begrüßte, wurde zu seiner tiefen Entrüstung keines Wortes gewürdigt, sondern stumm aus dem Zimmer gewiesen. Erwin wollte heute niemand sehen, keinen Menschen, denn er fühlte, daß man ihm die Verzweiflung vom Gesicht ablesen könnte.

Und nun, da er allein war zwischen seinen vier Wänden, schien ihm sein Zustand erst recht nicht erträglich. So dumpf so hoffnungsleer war ihm noch nie in seinem Leben zu Muth gewesen. Er setzte sich, stützte den Kopf in beide Hände und sann und sann. Und dann wieder sprang er empor und fuhr sich mit einer wilden Gebärde an die Stirn. Nicht denken, nicht denken! Denn am Schluß aller seiner Gedanken stand etwas Furchtbares, Entsetzliches, das er nicht sehen wollte, vor dem er die Augen schloß wie ein furchtsames Kind.

Endlich suchte er sein Bett auf, aber ruhelos wälzte er sich hin und her. Ob er das Gesicht in den Kissen vergrub oder in das vom Mondschein erhellte Zimmer starrte, immer und überall sah er ein gräßliches Bild, das ihm das Blut in den Adern erstarren machte: seinen Bruder Egon, wie er im Sarge lag, stumm und bleich, die roth klaffende Todeswunde mitten auf der Stirn.

Am andern Morgen in aller Frühe suchte er den Regimentsadjutanten auf. Dieses einsame Grübeln und Brüten hielt er nicht mehr aus. Er lechzte förmlich nach Mittheilung, nach einem freundlichen Rath, einem aufmunternden Wort.

Als er dem älteren Kameraden sein ganzes Herz ausgeschüttet hatte, entgegnete dieser, sein Auge in ehrlicher Theilnahme auf Erwin ruhen lassend: „Eure Lage ist verteufelt schwierig, lieber Buschenhagen. Habt Ihr denn gar keinen gutmüthigen alten Onkel, gar keine menschenfreundliche Erbtante, der Ihr ein paar tausend Mark abjagen könnt?“

Der junge Offizier schüttelte traurig den Kopf

„Und Euer Alter – wenn Ihr Euch ein Herz fassen und ein offenes Wort mit ihm reden würdet?“

Eine ungeduldige, heftig abwehrende Handbewegung des Kameraden belehrte ihn, daß von dieser Seite nichts zu erwarten sei.

„Also keine, gar keine Hoffnung, das Geld zu kriegen?“ fragte der Adjutant weiter.

„Keine!“

„Nun, Buschenhagen, dann bleibt Euch nur eines übrig.“

Der Angeredete erbleichte und der Kopf sank ihm auf die Brust. „Eine Kugel durch den Kopf!“ sagte er mit tonloser Stimme.

Der Adjutant fuhr auf. „Unsinn! Wer denkt gleich daran! Ein so junger lebenslustiger Mann wie Ihr! Wer weiß, welches Glück Euch noch blüht! Nein, nur den Abschied werdet Ihr nehmen müssen, und ich rathe Euch, Euer Gesuch noch heute einzureichen. Inzwischen besorge ich Euch Urlaub auf vierzehn Tage – bis er abgelaufen ist, wird die Genehmigung Eures Gesuches dasein und Ihr braucht gar nicht mehr zum Regiment zurück.“

Erwin von Buschenhagen lächelte bitter vor sich hin. „Der Abschied? Das ist ebenso gut, als riethen Sie mir zur Pistole.“

Der Adjutant machte ein böses Gesicht. „Na, hört ’mal, Buschenhagen, Ihr übertreibt da unverantwortlich. Giebt es denn außerhalb des Regiments kein Leben?“

„Für mich nicht,“ stieß der junge Offizier leidenschaftlich hervor. „Die Buschenhagens sind nie etwas anderes gewesen als Soldaten, und ich selbst habe nie daran gedacht, etwas anderes zu werden. Was sollte ich auch anfangen, wenn ich den Offiziersrock ausgezogen habe!“

Der Adjutant strich sich bedächtig den starken Schnurrbart und blickte nachdenklich zu Boden. Plötzlich erhellte sich seine Miene und er wandte sich lebhaft an den jüngeren Kameraden: „Sagt ’mal, Buschenhagen, habt Ihr den Schuckmann gekannt, den Freiherrn von Schuckmann von den Dragonern?“

Der Gefragte hob erstaunt den Kopf „Schuckmann? Freilich! Aber was –“

„Ihr wißt,“ unterbrach ihn der andere eifrig, „daß der tolle Schuckmann vor zwei Jahren verschwand, nachdem er sein ganzes väterliches Erbe bis auf den letzten Heller verjubelt hatte. Wo glaubt Ihr wohl, daß er sich heute befindet?“

„Nun?“ Der junge Lieutenant hob gespannt den Kopf.

„In Amerika!“ rief der Adjutant triumphierend, als verkünde er wer weiß was für eine frohe Botschaft, und dem Kameraden seine Hand mit der Miene eines Gönners auf die Schulter legend, fuhr er fort: „Das ist Euer Fall, Buschenhagen! Hier bei uns – da habt Ihr recht – hier würde es Euch schwer fallen, irgendwo wieder Wurzel zu fassen. Drüben ist es besser. Niemand kennt Euch da, alle Vorurtheile und den sonstigen Krimskrams, in dem wir nun ’mal bis über die Ohren stecken, könnt Ihr also hübsch zu Hause lassen. Geht hinüber und zieht in dem neuen Lande einen neuen Menschen an!“

Der Lieutenant war lebhaft emporgefahren. Auf den Schlußsatz hörte er nicht mehr. Das Wort „Amerika“ schien eine magische Wirkung auf ihn auszuüben. Seine hohe kraftvolle Gestalt richtete sich in die Höhe, seine breite Brust hob sich unter einem tiefen erlösenden Athemzug, Ihm war zu Muthe, als sei er plötzlich aus einem duuklen Schacht zum belebenden Tageslicht emporgestiegen. Aus seinen hellen blitzenden Augen strahlte wieder frischer Muth und fröhliches Hoffen. Der zukunftsfreudige Optimismus seiner Jugend und seines lebensfrohen Temperaments begehrte sein Recht. Amerika! Dort und sonst nirgends blühte Rettung! Einfach allen Scherereien und Verdrießlichkeiten aus dem Wege zu gehen. je weiter, desto besser – das war das Vernünftigste! Ueber das Wasser würde ihm Löwenthal nicht folgen!

Dankend reichte er dem Kameraden, der das erlösende Wort gesprochen hatte, die Hand.

„Und nun, lieber Buschenhagen,“ sagte dieser und gab den Händedruck herzlich zurück, „reist glücklich und laßt’s Euch gut gehen! Und wenn Ihr drüben den tollen Schuckmann trefft, grüßt ihn von mir – war immer ein braver Kerl, der Schuckmann, nur leichtsinnig, schauderhaft leichtsinnig.“

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 714. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_714.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)