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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

oder sein Befinden es gestattet. Dann zieht er sich in sein Zimmer zurück, um auszuruhen oder zu arbeiten. Dort liest er auch die mittags eingegangenen Briefe und Zeitungen, die Dr. Chrysander schon bei Tisch zugleich mit einem langen Bleistift überreicht hat. Einzelne bevorzugte Gäste werden mitunter vom Fürsten gebeten, ihm in sein Zimmer zu folgen, und hier findet dann wohl ein intimeres, für andere Hörer nicht bestimmtes Gespräch statt. Je nach der Witterung, der Tageshitze und dem Befinden erfolgt gegen fünf Uhr eine Ausfahrt, entweder mit der Fürstin oder mit einem etwa nach Kissingen gekommenen Gaste. Auf diesen Fahrten hat der Fürst im Laufe der Jahre die Umgegend von Kissingen so genau angesehen, daß er sich dort so gut auskennt wie auf seinen heimischen Gütern. Bodenbeschaffenheit, Waldbestände, Ernte, Wildstand, Eigenthümlichkeiten der Bewohner, nichts ist seinem Blicke entgangen. Zum Essen um sieben Uhr sind dann in der Regel wieder Gäste gebeten. So lange der Fürst im Amte war, stellte dazu die damals in Kissingen zahlreich vertretene Diplomatie eine große Ziffer. Deutsche und auswärtige Minister, fremde Botschafter, deutsche höhere Beamte und Offiziere harrten des Vorzugs, mit einer solchen Einladung beehrt zu werden. Nicht selten kamen auch Mitglieder der deutschen Diplomatie oder höhere Beamte aus Berlin zum Vortrag, und die Saline zu Kissingen ist der Schauplatz mancher wichtigen Verhandlung gewesen, die Wiege manches weittragenden Erlasses in der Reichsverwaltung. Seit dem Rücktritt von den Geschäften hat mit dem amtlichen Verkehr auch der Zutritt der vielen Personen aufgehört, die ehedem zu dienstlichen Zwecken nach Kissingen kamen. Aber auch heute noch erhält der Fürst viele Besuche, deren Erwiderung sich dann in sein Tagewerk einschiebt; hin und wieder folgt er auch wohl einer Einladung nahestehender Freunde, die, wie z. B. Graf Guido Henckel Donnersmarck, in Kissingen eigenen Hausstand führen.

Auch die Hauptmahlzeit belebt der Kanzler durch die ihm eigene außerordentliche Frische. Sind Fremde zugegen, die französisch sprechen, so führt er die Unterhaltung ebenso leicht und elegant französisch wie deutsch, ist ein Anlaß vorhanden, so werden auch wohl englische Sätze eingeschoben. Im letzten Winter setzte der Fürst seine Gäste durch den Vortrag eines Liedertextes in lettischer Sprache in Erstaunen, den er ohne jeden Anstoß hersagte. Weiß einer der Anwesenden gerade die richtige Saite in dem reichen Schatz der Erinnerungen des Fürsten anzuschlagen oder wird eine ihn besonders beschäftigende Tagesfrage berührt, so können die Anwesenden auch wohl das Glück haben, einem mit erstaunlicher Leuchtkraft gesättigten Vortrag zuzuhören, theils geschichtlichen, theils politischen Inhalts, aber immer von der gewaltigen Voraussicht, dem außerordentlich reichen Wissen und der sichern und treffenden Kritik des Fürsten zeugend. Wenn der Fürst dann mit der historischen Pfeife im Kreise seiner Hörer sitzt, fühlen die älteren Freunde sich um zwanzig Jahre zurückversetzt; der Fürst, der da vor ihnen sitzt, giebt dem Kanzler der siebziger Jahre nichts nach. Ist die Pfeife ausgegangen, so beeilt sich eine der anwesenden Damen, den Holzfidibus zu entzünden, und der Fürst unterläßt niemals, für die liebenswürdige Aufmerksamkeit mit einem Handkuß zu danken. Gegen 11 Uhr pflegt der Fürst sich dann zurückzuziehen, nicht selten, um noch Unterschriften oder Anordnungen für den nächsten Tag zu geben.

So ist sein Leben in Kissingen möglichst seiner häuslichen Ordnung in Friedrichsruh und Varzin angepaßt. Wenngleich außerhalb Kissingens und des eigentlichen Badelebens weilend, bildet der Fürst mit seiner Familie doch den Mittelpunkt des letzteren, und ganz erheblich hat sich das gesteigert, seit an die Stelle der amtlichen Persönlichkeiten, die den Fürsten in Kissingen mit Berichten, Rücksprachen und Vorträgen heimsuchten – das deutsche Volk getreten ist, welches mit dem Begründer von Deutschlands Macht und Einheit Zwiesprache pflegen und ihm dankerfüllt ins Antlitz sehen will. Der alte Kanzler, auf dem Hofe der Kissinger Saline unter der schattigen Kastanie zu deutschen Männern redend, das wird bis in die fernsten Tage unserer Geschichte ein eigenes und die Gemüther bewegendes Bild sein. Zu dem historischen Fenster unseres alten Kaisers ist der Kastanienbaum in der Kissinger Saline das Gegenstück, so wie Kaiser Wilhelm der Erste und sein großer Kanzler unzertrennlich zusammengehören.

Selten wird der Platz vor der Saline leer, so lange der Fürst in Kissingen weilt. Stets ist ein Häuflein Menschen da, Kurgäste, Durchreisende, Landleute aus der Umgegend, die zu Wagen oder mit dem Wanderstab hereingekommen sind, nur um ihn zu sehen. Kommt dann die Mittagsstunde, wo der Fürst ins Bad fährt, so wächst die Zahl der Harrenden an. Sie besetzen auch das gegenüberliegende ansteigende Gelände, um möglichst Einblick in die Fenster zu haben, so daß die fürstliche Familie nicht selten dadurch beengt ist. Die Polizei hat schon oft vergebliche Versuche gemacht, die Höhe zu räumen, aber das Publikum ist standhaft und ein jeder glaubt an Bismarck ein persönliches Anrecht zu haben.

Kommt dann der Tag der Abreise, so erneuern sich alle jene Kundgebungen der Liebe und Verehrung, die sich bei der Ankunft abgespielt haben, ungeachtet des Wechsels im Badepublikum in womöglich noch reicherem Maße. Die Fülle kostbarer Blumenspenden, die nebst Sendungen köstlichsten Obstes während der ganzen Zeit der Anwesenheit des fürstlichen Paares angedauert hat, wächst noch einmal riesengroß an. Von der Saline bis zum Bahnhofe geleiten ununterbrochen herzliche Zurufe die Scheidenden, am Bahnhofe selbst ist noch einmal alles versammelt, was irgend Anspruch darauf hat, dem Fürsten und seiner Gemahlin nahen zu dürfen. Selbst Tyras und Rebekka, die beiden Doggen, bekommen ihre Liebkosungen zum Abschiede; letzere ist übrigens in diesem Jahre nach längerer Unterbrechung zum ersten Male wieder mitgekommen. Endlich ist der Salonwagen bestiegen, die Glocke läutet das Abschiedssignal und vom Fenster aus erwidern Fürst und Fürstin dankend und grüßend das vielhundertstimmige: Auf Wiedersehen!


Die Noth.
Von Franz Beckert.[1]

Kennt ihr die harte, die eherne Noth,
Das alte graue hohlwangige Weib?
Weh’ jedem, dem sie von fern nur droht,
Den leise nur streift ihr Gigantenleib!
Und zweimal wehe, wen sie erreicht,
Wen sie umschlingt mit den Knochenarmen –
Kein Schrei des Schmerzes ihr Herz erweicht,
Sie kennt kein Mitleid, kennt kein Erbarmen!

Mit des Windes Hast, mit des Wolfes Gier
Auf leisen Sohlen kommt sie heran,
Blickt grinsend über die Schulter dir
Und starrt dich mit hohlen Augen an.
Sie reißt dich empor aus des Glückes Schoße,
Sie bleicht zu Schnee deiner Wangen Roth,
Sie hetzt dich müde bis hin zum Tod,
Die Noth, die rauhe, erbarmungslose.

Sie fragt nicht, welche Stunde es sei,
Sie überfällt dich am hellen Tag,
Sie schleicht sich in dunkler Nacht herbei
Und rüttelt dich aus dem Schlummer wach.
Sie dringt in die glückgesichertsten Räume
Mit ihrem leisen Gespensterschritt,
Bringt ihre Schwester, die Sorge, mit
Und macht zur Hölle dir deine Träume.

Das ist die harte, die eherne Noth,
Die kein Gebot, keine Satzung kennt,
Die kalt uns entreißt unser letztes Brot,
Die grausam die theuersten Bande trennt.
Die Noth, die jäh, mit des Blitzes Schnelle,
Vernichtend nieder zur Erde fährt –
O betet, betet, daß unserm Herd,
Daß fern sie bleibe stets unsrer Schwelle!


  1. Wir freuen uns, in dem Verfasser dieses Gedichtes unseren Lesern einen einfachen Kürschnermeister vorführen zu können, der zeigt, daß das Vorbild von Hans Sachs seine Kraft noch nicht verloren, daß die Pflege deutscher Sprache und Dichtung in den Handwerksstuben noch immer eine Stätte hat. Die Redaktion. 

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 723. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_723.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2023)