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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

mich ein lebendiges Räthsel. Ihr seid der erste Nähmaschinenagent, der bei seinem Geschäft auf einen grünen Zweig gekommen ist.“

Reussenstein lachte, während der Fragende, ein Graf Bürker, zur Zeit Oberkellner in einem deutschen Gasthaus in der Greenwich Street, sich würdevoll in seinen Stuhl zurücklehnte.

„Lieber Graf, die Sache ist sehr einfach,“ entgegnete Reussenstein, „man muß eben sein Geschäft verstehen. Reden muß man können, in allen Tonarten, zart und rauh, prahlend und klagend, lachend und weinend, wie es eben der einzelne Fall verlangt. Freilich, wenn man weiter nichts zu sagen hat als: ‚Brauchen Sie keine Nähmaschine? Nicht? Dann entschuldigen Sie, bitte!‘ so kann man getrost einpacken. Man muß den Leuten etwas vorschwatzen, bis ihnen der Kopf wirbelig wird und sie zu allem Ja sagen, bloß um einen loszuwerden.“ Der Sprechende lächelte wohlgefällig und strich sich den Schnurrbart. „Ich will doch die Frau sehen, die mir nicht einen Auftrag giebt, wenn ich schön bitte. Wenn nur nicht diese hartherzigen Ehemänner wären, die hinterher die Bestellungen wieder rückgängig machen!“ (Fortsetzung folgt.)     


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Weltverbesserer.[1]

Von Dr. J. O. Holsch.
VII.
Die moderne Philosophie als Weltverbessrerin.

Von den praktischen Versuchen eines Cabet, Owen und Rapp drüben in der Neuen Welt der nordamerikanischen Freistaaten wenden wir den Blick wieder zurück aufs europäische Festland. Hier war man um dieselbe Zeit, gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts, an einem entscheidenden Wendepunkt angekommen. Die neuere Philosophie, insbesondere die deutsche, welche schon in Kant begonnen hatte, sich mit Eifer in das liebe Ich des Menschen selbst, in seine Anlagen und Kräfte zu versenken, suchte mit nie zuvor erreichter Gründlichkeit bis auf die tiefsten Wurzeln des menschlichen Daseins und der menschlichen Geschichte hinabzudringen. In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts setzten die bedeutendsten Geister, insbesondere auch Deutschlands, ihre Kraft für diese Arbeit ein. Das Ergebniß ihres Forschens war nicht bloß eine klarere, bestimmtere Erfassung der treibenden Ursachen der gesamten geistigen Entwicklung, man langte schließlich an bei einer umfassenden Kulturgeschichte des Menschengeschlechts überhaupt und schärfte so den Blick ganz besonders auch für die rein wirthschaftlichen Lebensvorgänge.

Schon Johann Gottlieb Fichte, der unmittelbare Nachfolger Kants, hat in seiner Staatslehre – insonderheit in dem genialen Werke „Der geschlossene Handelsstaat“ – mit vollem Bewußtsein sich daran gemacht, gerade auch die materiellen Lebensbedingungen seines Volkes zu überblicken; Hegel vollends, der klassische Zeuge des ganzen inneren Umschwungs um die Wende unseres Jahrhunderts, ist mit seinem Satze: „Alles Wirkliche ist vernünftig“ nicht bloß der Vater eines wahrhaft großartigen Aufschwungs der Geschichtsauffassung und Geschichtsdarstellung geworden, er hat auch die wirthschaftlichen Schranken der Wirklichkeit, insbesondere des Staates, deutlich dem Auge der Zeitgenossen enthüllt. Es ist daher weder die Thatsache ein Zufall, daß von Hegel die glänzendsten Namen unserer zeitgenössischen Historiker ihren Ausgang nehmen, noch die andere, daß von ihm ebenso unsere bedeutendsten Vertreter der Wirthschaftslehre, insbesondere auch diejenigen sozialistischer Färbung, ihr Bestes gelernt haben. Karl Marx und sein noch lebender Geistesverwandter Friedrich Engels waren ebenso verständnißvolle wie begeisterte Schüler des berühmten preußischen Staatsphilosophen Hegel, und Ferdinand Lassalle hat seine dicksten wissenschaftlichen Werke unter dem unmittelbaren Eindruck der Hegelschen Geschichtsauffassung niedergeschrieben.

Noch eine ganze Reihe von Namen und charakteristischen Erscheinungen könnte hier angezogen werden, um diesen geistigen Umschwung zu kennzeichnen, der gleichzeitig durch die anthropologischen Entdeckungen eines Darwin und anderer einen neuen Anstoß erhielt – allein für den Rahmen, den wir uns abgesteckt haben, genügt es, den Verlauf im großen Ganzen angedeutet zu haben.

So kann man sagen, daß die ganze soziale Bewegung, in welcher wir heute stehen, zwar ihren äußeren Anlaß und Untergrund der eigenartigen und namentlich seit Einführung der verschiedenen Kraftmaschinen reißend schnellen Umgestaltung der Produktionsbedingungen entnahm und entnimmt, daß aber die Formulierung ihrer Gedanken und die Begründung ihrer Forderungen aus der modernen Philosophie stammen. Sie ist es, welche die letzten Ursachen bloßlegt, sie ist es, welche die Ziele bestimmt, sie ist es auch schließlich, welche die Massen in Bewegung zu setzen unternimmt, sei es nun durch Anpassung der bestimmten Forderungen an die Gedankenkreise der Menschen, sei es durch den Versuch, eine „neue“ Weltanschauung zu bilden. Bei der führenden Rolle, welche dem deutschen Sozialismus in Europa zukommt und welche sich erst vor kurzem wieder auf dem internationalen Kongreß in Zürich (August 1893) erwiesen hat, erscheint es nothwendig, die edelsten Typen, auf die sich seine Weltverbesserungspläne stützen, in kurzen Umrissen vorzuführen. Wir sehen dabei zunächst von den rein politischen Zielen und Forderungen ab und halten uns lediglich an die wirthschaftlichen Ideen und Ideale.

Der deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte hat in seinem Werke „Der geschlossene Handelsstaat“ schon im Jahre 1800 ein vollkommenes sozialistisches System entworfen. Er weist zunächst nach, daß das Eigenthumsrecht im tiefsten Grunde nicht das Recht auf bestimmte „Sachen“ sondern auf bestimmte „Handlungen, Thätigkeiten“ sei, daß der Zweck aller menschlichen Thätigkeit der ist, leben zu können, und zwar so angenehm als möglich, und daß ein „Vernunftstaat“ derjenige Staat sei, welcher jedem Einzelnen dies nach Möglichkeit gewährleiste. Das Leben nach seiner wirthschaftlichen Seite hin besteht nun in Hervorbringung und gleichzeitigem Verbrauch von unbearbeiteten wie bearbeiteten Stoffen, welche jedem Einzelnen in gewissen Mengen zugeführt werden. Demgemäß sind nach Fichte der „Produzent“, dann der „Künstler“ – d. h. Verarbeiter jeder Art – und endlich der „Kaufmann“ die Grundbestandtheile der Nation; selbstverständlich zerfällt jeder dieser drei Stände wieder in mancherlei Unterabtheilungen. Der erste Stand, derjenige der Produktengewinner, ist die naturgemäße und nothwendige Grundlage des Staats, der höchste Maßstab, wonach alles übrige sich richtet. Ist die Leistungsfähigkeit desselben noch in der Kindheit, so darf der Staat nur wenige „Künstler“, d. h. Verarbeiter aller Art haben. Und so wie die Zahl der „Künstler“ – heutzutage würden wir sagen: der Gewerbetreibenden – von derjenigen der Urproduzenten abhängig ist, so die Zahl der „Kaufleute“ – d. h. der im Warenverkehr Thätigen – von der Zahl der beiden ersten Kategorien. Es ist nicht bloß ein frommer Wunsch, sondern es ist die unerläßliche Forderung des Rechts der Menschheit, daß sie so leicht, so frei, so gebietend über die Natur, so echt menschlich auf der Erde lebe, als es die Natur nur irgend verstattet. In einem gemäß dem Rechtsgesetze geordneten Staate müssen daher nach Fichte die drei Hauptstände der Nation gegeneinander genau berechnet und jeder auf eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern eingeschränkt, jedem Bürger muß ferner sein verhältnißmäßiger Antheil an allen Naturprodukten und Fabrikaten des Landes gegen seine ihm aufzuerlegende Arbeit ebenso wie den öffentlichen Beamten zugesichert sein. Zu diesem Behufe soll der Werth aller Dinge gegeneinander festgesetzt sein und jeder unmittelbare Handel der Bürger des Inlands mit dem Auslande wegfallen. Dieses Recht, andere von einer gewissen uns allein vorbehaltenen freien Thätigkeit auszuschließen, ist demnach für Fichte die einzige Grundlage alles Eigenthumsrechtes; er schließt daraus geradlinig, daß die Anordnung der wirthschaftlichen Thätigkeiten, d. h. der Arbeit im weitesten Sinn des Wortes, die von dem modernen Staat zu lösende Aufgabe sei. Während der Staat bisher nur einen abgesonderten [j]uridischen und politischen Körper bildete, setzt ihm


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 744. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_744.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)