Seite:Die Gartenlaube (1893) 771.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

stehen? Mein Ruf sollte Ihnen zu heilig sein, um mich durch Ihr auffälliges Benehmen dem Gerede preiszugeben!“

„Ihr Ruf ist mir heilig, gnädige Frau. Auffällig, sagen Sie, sei meine scheue Bewunderung? Aber ich schwöre Ihnen, kein Mensch hat mich gesehen. Wenn ein Tritt sich nahte, wenn nur ein Laut vernehmbar wurde, schlich ich fort in das tiefste Dunkel.“ Er sprach hastig wie sie, mit leiser Stimme, die in dem anwachsenden Straßenlärm nur an ihr Ohr dringen konnte. „Wie ein Schatten betrete ich die Gegend, in der meine Gedanken unausgesetzt weilen. Wenn Sie darüber zürnen, muß ich wohl fürchten, daß meine Nähe Sie stört, Excellenz – denn nur Sie wußten von ihr.“

„Nun denn – Sie stören mich in der That! Ich will nicht, daß Sie wiederkommen!“

Sie sah, wie er zusammenzuckte. Mit fest aneinander gepreßten Lippen stand er neben ihr und schwieg. Er schwieg hartnäckig, auch als die Generalin wieder erschien und zu plaudern begann. Stumm trat er dann in eine Ecke des Gemachs und hielt sich mit einer düsteren Miene von Dora fern. Sie sagte sich, daß diese schroffe Abweisung ihre Pflicht gewesen sei, daß diese weite Kluft zwischen ihnen sein müsse, aber sie konnte doch nicht anders als immer wieder nach der Stelle blicken,m wo er stand. Sie gehörte zu den Menschen, die es nicht ertragen, jemand wehgethan zu haben, die alle Dissonanzen abgleichen möchten, auch die unauflösbaren. Als er nach dem Frühstück, das man in dem stillen, kühlen Eßzimmer eingenommen hatte, eine Sekunde in ihre Nähe kam, schaute sie ihn fragend an, mit guten traurigen Augen. Es war nur ein kurzer Blick, aber er genügte, um dem Assessor zu zeigen, daß er richtig gerechnet, daß seine beleidigte Miene sie weicher gestimmt habe.

Ein lauter Lärm auf der Straße lockte die übrigen Gäste an die Fenster; sie blieben allein in dem leeren Speisezimmer.

„Man lacht sehr vergnügt da unten“ sagte er in einem gedämpften leidenschaftlichen Ton. „Mir erweckt diese Feststimmung einen Groll, als wäre sie ein Hohn auf mich. Sie schauen mich an, Excellenz – Sie wollen sehen, welche Miene ein Mensch zeigt, den man mit einem kurzen kühlen Wort von dem einzigen armseligen Fleckchen verbannt hat, das ihm eine schmerzliche Seligkeit gewährte? Nicht einmal dieses dunkle bescheidene Glück, dieses Bettlerglück gönnen Sie mir!“

Dora hatte die Selbstbeherrschung verloren. Ihr Herz, das sie so lange niedergekämpft hatte, klopfte wild, unbändig. „Glück!“ wiederholte sie. „Das nennen Sie Glück?“

Er sah den träumerischen Glanz in ihren Augen, das schmerzliche Zucken um ihre Lippen. Nun hatte er erreicht, was er wollte: sie verrieth, daß sie litt. Nun wollte, nun mußte er das Aeußerste wagen. „Ja, ein Bettlerglück – ich sagte so. Und steht es dem Bettler nicht frei, auf Stunden sein Elend zu vergessen, wenn er Phantasie genug besitzt, um sich in den Traum zu wiegen, er sei reich und mächtig, sei König – was er nur immer will? Der Bettler am Gitter Ihres Gartens hatte solch berückenden Traum, wenn er in der süßen Sommernacht da draußen stand. Er sagte sich: nichts trennt mich von der geliebten Frau, die dort im Lampenschimmer sitzt, nichts! Wenn ich nur will – ein einziger Griff und diese Pforte öffnet sich; wenige Schritte, und ich bin auf jenen Stufen dort, die zum Paradiese führen! Sie hört einen Laut, sie springt empor – ich aber stürze hin zu ihren Füßen, und endlich, endlich sage ich ihr in tausend heißen Worten, was ich verschweigen, vergraben mußte, bis zum Ersticken!“

Er schwieg. Seine lodernden Augen redeten eine noch glühendere Sprache als sein Mund. Sie wußte nicht, was die ihrigen antworteten, sie hatte die Gewalt über ihre Blicke verloren, aber ihre Lippen entgegneten zitternd, tonlos: „Ein tolldreister Traum! Das Märchen eines Fieberkranken! Ich wußte nicht, daß Sie dichten, Herr Assessor!“

„Welches Märchen hat Ihnen dieser böse Mensch erzählt?“ fragte plötzlich eine scharfe Stimme hinter ihnen; es war die der Generalin, die forschend von einem zum andern blickte.

Sie erschraken beide, keines konnte seine Verwirrung verbergen. Sie fühlten erst jetzt, wie weit sie während dieser einsamen Minuten von ihrer Umgebung fortgewesen waren, wie gänzlich sie die Welt um sich her vergessen hatten. (Schluß folgt.)     



Blätter und Blüthen.


Die Wüstenburg Dschodpur. (Zu dem Bilde S. 769.) Südöstlich von dem Indusstrome erstreckt sich die weite Landschaft Radschputana, die in ihrer Flächenausdehnung dem Königreich Preußen nahezu gleichkommt, aber, dünner bevölkert, nur 10 Millionen Einwohner beherhergt. Kein Wunder, denn dieses Gebiet ist nicht so fruchtbar wie die gesegneten Ufer des Gangesstromes; die indische Wüste greift in die Landschaft hinein und vielfach ist die Bevölkerung beim Bebauen des Bodens auf künstliche Bewässerung angewiesen. Das Land hat den Namen von dem Stamme der Radschputen erhalten, der zu den tapfersten und kühnsten der Hinduvölker zählt. Die Reiterscharen dieser Nomaden hatten sich einst über die Nordebenen Indiens ergossen und gründeten eine Reihe kleiner Fürstenthümer, die sich untereinander befehdeten und mit den Nachbarn in ewigen Kriegen lebten. Sie selbst nennen sich „Sonnenkinder“, „Söhne des Gottes Indra“, und blicken noch heute als Mitglieder der Kaste der Kschatriyas, als indischer Kriegeradel, geringschätzig auf die friedlicheren Bewohner herab, zu deren Beherrschern sie sich aufgeschwungen haben. Trotz dieser angeborenen Tapferkeit mußten die Radschputen wiederholt ihren Nacken unter fremde Herrschaft beugen, denn die Uneinigkeit, die zwischen den kleinen Fürsten herrschte, schwächte ihre Macht. So sind auch heute die neunzehn zwischen Gebirgen und auf weiten Steppenebenen zerstreuten Radschputenstaaten England tributpflichtig.

Zu der Burg eines dieser Vasallen der Kaiserin von Indien möchten wir heute die Leser führen. Auf Flügeln des Dampfes eilen wir an die Grenzbezirke der Salzwüste Marwar, der „Gefilde des Todes“; dort erhebt sich über einer indischen Stadt, auf einem nackten gewaltigen Felsen, die Adlerburg des Fürsten von Dschodpur, hinter den schützenden Mauern eine Stadt von Palästen, die wie so viele Bauten Indiens von entschwundener Macht erzählt.

Es ist eine Fürstenburg im vollsten Sinne des Wortes. Sie war bis jetzt in Europa wenig bekannt, aber im Jahre 1891 erschien vor ihren Thoren ein glänzender Aufzug. Der Großfürst-Thronfolger von Rußland stattete auf seiner Weltreise dem Fürsten von Dschodpur einen Besuch ab, und man trug den Sohn des weißen Zaren in einer mit silbernen Pfauen geschmückten Sänfte die steilen Treppen zu der alten Burg hinauf. Trotz des zahlreichen Besuches war es lautlos und menschenleer im Adlerhorst der „Nachkommen des Tagesgestirnes“ und die Schritte der Fremden hallten dumpf auf dem Flur im Schatten der majestätischen, braungoldigen Prunkgemächer wieder. Aber welche Erinnerungen weckte der Anblick dieser langen Flucht von verödeten Sälen und Schlafgemächern mit einsamen Thronsesseln, seidengepolsterten Ruhelagern und zahlreichen Pfeilern, mythologischen Wandgemälden, Spiegeln und geschmackloser Vergoldung!

Einst waren hier, von Purpurschirmen beschattet, beim Dröhnen riesiger Trommeln, umgeben von Leibwächtern mit Gold- und Silberwaffen, die Fürsten der Wüste geschritten. Glänzende Feste hatte man hier gefeiert, da vor dem Namen der Radschputen die Nachbarn in Furcht und Schrecken erzitterten. Durch die Pforten kamen barfuß die huldigenden Vasallen, zogen aber auch kraft eines unwiderruflichen Richterspruches der Gemeinde die allzu eigensinnigen und frevelhaften Fürstensöhne für immer in die Verbannung. Es wurde ihnen ein schwarzes Roß vorgeführt, das einfachste Gewand angelegt, ein Schild umgehängt und ein Schwert umgegürtet, worauf sie sich entfernen mußten.

Manchmal ereigneten sich in der Feste schaurige Dramen anderer Art. Ein Thronerbe rüstete sich gegen einen Nebenbuhler, oder ein durch Beleidigungen zur Empörung getriebener Lehnsmann wurde in eine Falle gelockt, um in einem der Burghöfe meuchlerisch niedergestreckt zu werden. Aber auch dann baten die Ueberfallenen nur um die Gnade, mit der blanken Waffe getödet zu werden, nicht mit einer Kugel aus der Ferne. Den Vornehmsten wurde ein Giftbecher gereicht, den sie ohne Zagen an ihre Lippen führten, nur mußte der Todeskelch aus Gold sein.

Wie oft wurden im Laufe der Jahrhunderte durch diese Thore die toten Fürsten von Dschodpur mit freiem Antlitz und bloßen Füßen, in einer Art Kahn ausgestreckt, von den trauernden Vasallen zum Scheiterhaufen getragen! Wie oft wandelten auf diesem Stege die holden Gemahlinnen des Toten zu dem ihnen aus wohlriechendem Holze, Baumwolle und Kampfer bereiteten Feuergrabe! An dem Thore der düsteren Burg sind gar viele silberne Hände angebracht, Erinnerungsmäler an die Fürstinnen, die getreu ihren Männern in den Tod gefolgt sind!

Auf dem Hofe der Burg erhebt sich ein weißer Stein, die „Gadi“; der rechtmäßige Nachkomme eines gestorbenen Herrschers setzte sich auf ihm nieder und ergriff die Regierung. Von den Fenstern seines Schlosses schaute er in die weite Ferne. Da sah er die Stadt Dschodpur zu seinen Füßen; da lagen wie heute nach Jahrhunderten bunt durcheinander Heidentempel, Wasserbehälter, kleine weiße Häuser der Landesvornehmen, enge Straßen mit Wohngebäuden und die düstern jähen Abhänge der Burg selbst; und weiter schweifte der Blick über die tote, schmutzig braune Wüste bis zu der rauhen Kette kahler Anhöhen, die im Nebel der öden Ferne verschwammen. Dieser stete Umblick auf die traurige Scenerie mußte in den „Söhnen des Tagesgestirnes“ eine unbefriedigte Sehnsucht nach etwas

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 771. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_771.jpg&oldid=- (Version vom 4.5.2023)