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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

selten wies man ihn gleich von vornherein von der Schwelle. Oft lud man ihn ein, sich zu setzen, und Erwin folgte der Aufforderung gern, denn das fortwährende Umherlaufen, das Treppauf- Treppabsteigen war ermüdend. So saß er manchmal eine Mittags- oder Abendstunde bei irgend einer Arbeiterfamilie, sprach mit den Männern über Politik und schwatzte mit den Frauen von ihren kleinen Sorgen, von der Noth und Mühseligkeit des Lebens. Und wenn er sich dann später solche Stunden in der Erinnerung wieder vergegenwärtigte, so mußte er im stillen über sich selbst lächeln. War er es denn wirklich, Erwin von Buschenhagen, der sich mit den Aermsten des Volkes auf gleichen Fuß stellte, sich in ihre Gewohnheiten und Anschauungen hineinfand und ihnen in ehrlicher Theilnahme die Hände schüttelte?

Wenn Erwin jetzt des Morgens seinen Rundgang antrat, hatte er nicht mehr jenes lähmende Grauen, jenes Unbehagen und Frösteln zu bekämpfen, das ihm früher, eine Art Kanonenfieber, die erste Stunde jedes neuen Tages zu einer Marter machte. Er hatte sich ausgesöhnt mit der Beschäftigung, die ihm durch Gewohnheit und Erfolg fast lieb geworden war. Um so schmerzlicher überraschte ihn daher eines Tages die Mittheilung des Geschäftsführers des „Volksblattes“, daß die Zeitnug ferner auf seine Dienste verzichte. Mit Unwillen vernahm er den Grund der Entlassung, den ihm der Mann offenherzig angab, Eine Anzahl von „Genossen“ hatte sich erboten, Sonntags in ihrer arbeitsfreien Zeit New York von Haus zu Haus zu durchwandern, um Gesinnungsgenossen und Leser zu gewinnen.

Erwin konnte ein bitteres Auflachen nicht unterdrücken. Am Abend vorher hatte er aus Neugier eine sozialdemokratische Versammlung besucht. Der „Normalarbeitstag“ hatte den Gegenstand der Erörterung gebildet, und der Hauptredner hatte mit besonderer Schärfe das Arbeiten in den sogenannten „Ueberstunden“ gebrandmarkt. „Je kürzer der Arbeitstag, desto geringer die Zahl der Arbeitslosen. Jede Ueberstunde ist ein Verbrechen an unsern hungernden und darbenden Genossen“ – das war das Leitmotiv gewesen, das sich durch alle Ausführungen des Redners hindurchgezogen hatte. Und nun – was thaten jene Genossen, die ihre freien Sonntage zur Agitation verwandten, anderes als „Ueberstunden machen“? Schnitten sie nicht den Aermeren, ihm und anderen, mitleidlos den Erwerb ab? Rissen sie ihm nicht sein bißchen Brot aus den Zähnen? Das Unrecht, das man ihnen zufügte, sahen sie wohl, aber für das Unrecht, das sie selbst gegen andere verübten, waren sie blind!

Mit dieser nicht eben tröstlichen Betrachtung schloß Erwin diese Phase seines Lebens und seine Beziehungen zur Sozialdemokratie ab. Er bemühte sich zunöchst aufs neue, als Kellner irgendwo Aufnahme zu finden, wobei er die größeren Lokale, welche die Versammlungsorte für das ganze Deutschthum des östlichen New York bildeten, ängstlich mied. Aber in den kleinen Bierschenken brauchte man keinen Kellner.

Die wenigen Dollar, die er während des letzten Monats erübrigt hatte, reichten nicht lange aus, und als ihm endlich in seiner Verzweiflung und Rathlosigkeit der Gedanke kam, es einmal mit dem Hausieren zu versuchen, da besaß er nicht mehr Mittel genug zum Einkauf von Waren.

Seine Noth begann drohender und druckender zu werden denn je, Obdachlosigkeit und Hunger standen vor der Thür. Verzweifelt durchstreifte er die Stadt kreuz und quer, überall aufmerksam spähend, ab und zu in ein Lokal eintretend, um nach Arbeit zu fragen – immer vergebens.

Da kam ihm, als er eines Tages stundenlang den Broadway auf und ab gewandert war, eine hagere, steif heranstelzende Gestalt entgegen, in der er mit ungestümer Freude seinen amerikanischen Reisegefährten erkannte. Mister Hopkins! Gerettet! jubelte es in ihm. Er stellte sich ihm in den Weg llud grüßte schon von weitem. „Wie geht es Ihnen, Mister Hopkins?“

Der Amerikaner blickte erstaunt auf, grüßte und blieb stehen. „Sehr erfreut, Sie zu sehen, Mister – Mister –?“

„Hagen,“ fiel Erwin ein. „Wir lernten uns auf dem Dampfer kennen –“

„Ganz recht – ja, erinnere mich. Well, wie gefällt’s Ihnen bei uns, Mister Hagen?“

Erwin seufzte. „Ein heißer Boden, dieses Amerika,“ stammelte er, während Hopkins ihn schnell von oben bis unten musterte.

„Hm, hm,“ machte der Amerikaner und schwieg. Erwin aber, von der Angst erfüllt, daß jener seinen Weg fortsetzen und ihn hilflos zurücklassen könnte, stieß mit dem Eifer der Verzweiflung hervor. „Es ist so schwer, lohnende Beschäftigung zu finden, wenn man fremd ist und – und keinerlei Anhalt hat –“

Der Amerikaner betrachtete ihn wieder und sagte dann langsam: „Wenn ich Sie recht verstehe, suchen Sie Arbeit, Mister Hage.“

„Ja, die suche ich,“ entgegnete Erwin schnell, und ohne sich darum zu kümmern, ob sein Benehmen vielleicht zudringlich sein könnte, fügte er mit bittender Stimme hinzu. „Wenn Sie mir mit Ihrem Rath beistehen könnten –“

Der Amerikaner räusperte sich, zögerte einen Augenblick und sagte dann in seinem kalten, gleichmäßigen Ton. „Well, kommen Sie morgen gegen Mittag auf mein Bureau, Hoe und Kompagnie, 124 Grand Street. Will sehen, was ich für Sie thun kann.“

Er sprach das mit einer so ruhigen, unempfindlichen Miene, daß man zweifelhaft sein konnte, ob er es nur sagte, um den Bittenden loszuwerden, oder in dem wirklichen Verlangen, zu helfen. In Erwin aber stieg ein so heißes Dankgefühl empor, daß er mit feuchten Augen und in überschwänglichen Worten seinem gepreßten Herzen Luft zu machen begann. Mister Hopkins jedoch winkte abwehrend mit der Hand. „Good morning, Sir!“ Und eilig setzte er seinen Weg fort.

Am andern Morgen unterzog Erwin, bevor er sich zu Hopkins auf den Weg machte, seinen Anzug, den einzigen, den er noch besaß, einer eingehenden Besichtigung. Während der letzten Wochen war ihm allmählich Sinn und Gefühl für die Pflege seines Aeußeren abhanden gekommen, Jetzt aber erschrak er, als er wahrnehmen mußte, daß die Nähte seines Rockes schon recht abgescheuert und die Knopflöcher ausgerissen waren. Den letzteren Schaden besserte er, so gut er konnte, mit Nadel und Zwirn aus. Seine Stiefel bürstete er mit besonderer Sorgfalt, und wo das Leder gebrochen war und die hellen Strümpfe durchschimmern ließ, half er mit Tinte nach. Die Hutkrempe, die schon sehr abgegriffen war, frischte er, kurz bevor er das Haus verließ, mit Wasser auf.

Im Bureau von Hoe und Kompagnie nahm Mister Hopkins ohne weiteres ein kleines Examen mit Erwin vor.

„Wie steht es mit dem Englischen, Mister Hagen?“ fragte er, nachdem er mit dem Eintretenden nach amerikanischer Sitte einen Händedruck getauscht hatte.

„Ein wenig spreche ich es, aber nicht geläufig,“ entgegnete Erwin.

„Und mit Buchführung und Korrespondenz – wie ist’s damit?“

Erwin ließ muthlos den Kopf sinken, während er kleinlaut antwortete: „Davon verstehe ich wenig.“

„So! Hm! – Na, nur nicht gleich verzweifeln, Sir! Vielleicht findet sich etwas anderes, vorausgesetzt, daß Sie nicht wählerisch sind und sich vor – well, vor gewöhnlicher Handarbeit nicht fürchten.“

„O ich verschmähe nichts, mir ist jede ehrliche Arbeit recht, wenn ich dabei nur mein Leben fristen kann,“ stieß Erwin eifrig hervor. Neue Hoffnung röthete seine Wangen und richtete die zusammengesunkene Gestalt wieder straff empor.

„Gut, so will ich sehen, ob Mister Wegner, unser Vormann, Sie einstellen kann.“ Er sprach ein paar Worte in das Sprachrohr, welches das Comptoir mit der Werkstätte der Fabrik verband. Ein paar Minuten später trat ein Mann ins Zimmer, den Erwin, der mit dem Rücken gegen die Thür stand, nicht sehen konnte.

„Hier ist ein junger Landsmann von Ihnen, Mister Wegner,“ nahm der Amerikaner das Wort, „der um Arbeit anfragt. Es wäre mir lieb, wenn Sie etwas für ihn hätten.“

„Arbeit, Mister Hopkins, genug für zwei und auch für drei –“

Beim Klange dieser Stimme drehte sich Erwin so heftig um, daß der Sprechende unwillkürlich innehielt. Und nun starrten die beiden Männer einander an, der eine wie zum Sprunge bereit, mit Augen, aus denen Haß und Grimm sprühte – der andere mit fahlem, erbleichendem Gesicht.

Verwundert blickte der Amerikaner von einem zum andern. „Nun?“ rief er, zu Franz Wagner gewandt, dessen Namen er englisch „Wegner“ auszusprechen pflegte.

„Für diesen Mann da, Mister Hopkins,“ erklärte der Gefragte rauh und schroff, indem er den Arm mit heftiger Gebärde gegen Erwin ausstreckte, „für diesen Mann da habe ich keine Arbeit.“

Hopkins fühlte sich durch diese unhöfliche Weigerung Wagners verletzt. „Wenn ich Ihnen erkläre,“ sagte er scharf, „daß ich die Einstellung dieses Herrn wünsche –“

Der junge Mann aber ließ ihn nicht ausreden, „Ich kann

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 774. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_774.jpg&oldid=- (Version vom 28.1.2023)