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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Sie nicht hindern, Mister Hopkins,“ rief er bebend, in mühsam beherrschter Erregung, „dem – dem da Arbeit zu geben. Für uns beide aber ist in einer und derselben Werkstatt nicht Raum. Bleibt er, so gehe ich.“

Der Amerikaner überlegte nur einen Augenblick. „Und das ist Ihr letztes Wort?“

„Mein letztes, Mister Hopkins.“

Der Amerikaner war sich sofort klar, was er im Interesse des Geschäfts zu thun habe. „All right, geheu Sie an Ihre Arbeit, Mister Wegner! Die Sache ist erledigt.“

Und sich, nachdem Wagner das Zimmer verlassen hatte, in gleichmüthigem Tone an Erwin wendend, sagte er mit einem flüchtigen Achselzucken: „Mister Hagen, es thut mir leid, aber ich kann nichts für Sie thun. Mister Wegner ist geradezu unentbehrlich für die Fabrik.“

Erwin erwiderte nichts; mit gesenktem Haupte, ganz daniedergebeugt von dem, was ihm widerfahren war, verließ er den Ort, den er mit so frohen Hoffnungen betreten hatte. Was waren alle Bitterkeiten, die ihm die letzten Monate gebracht hatten, im Vergleich zu dem vernichtenden Eindruck dieser wenigen Minuten! Knirschend fluchte er dieser Vergangenheit, deren Schatten ein tückischer Zufall wie einen Dämon an seine Fersen heftete.


9.

Am nächsten Tage stand Erwill auf der Straße, obdachlos, seinen letzten Dollar in der Tasche; plan- und ziellos durchirrte er die Straßen der Stadt. Gegen Mittag trat er in ein Bierlokal, trank ein Glas Bier für fünf Cent und nahm ein paar Brötchen von dem „Free Lunch“. Am Abend suchte er eines der billigen Logierhäuser am unteren Ende der Bowery auf. So trieb er es ein paar Tage, bis der letzte Cent ausgegeben war. Und nun gähnten ihn alle Schrecken des Elends an.

Ein kalter Wintertag war angebrochen; der Schnee lag fußhoch in den Straßen und ein eisiger Nordwind schnitt den hastig vorübereilenden Fußgängern wie mit Messern ins Gesicht.

Erwin war in seinem dünnen Rock durchfroren bis auf die Knochen und todmüde; kaum daß er sich noch aufrecht halten konnte. Seit vierundzwanzig Stunden hatte er keinen Bissen mehr zu sich genommen. Endlos, endlos dehnten sich die Stunden, während er bald in einem abgelegenen Winkel Schutz vor dem Wind und einige Minuten Ruhe suchte, bald wieder durch die Straßen rannte, um die erstarrten Glieder zu erwärmen.

Die Dämmerung brach herein. Er schauderte bei dem Gedanken an das, was ihm bevorstand. Irgendwo, an einem einsamen Ort, würde er zusammenbrechen und die Schneedecke, die dicht den Boden verhüllte, wurde sein Sterbelager. Sterben! Das Wort hatte zwar für ihn viel von seinem Grauenhaften verloren, dennoch lehnte sich die Lebenslust seiner fünfundzwanzig Jahre gegen eine dumpfe Resignation auf. Mehr als einmal war ihm der Gedanke an Schuckmann durch den Kopf gefahren, aber immer wieder hatte die Scham ihn abgehalten, den einstigen Kameraden aufzusuchen und seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Daß Schuckmann keine Arbeit für ihn hatte, wußte er. Sollte er dem Freunde zur Last fallen, sich Almosen von ihm geben lassen? Sollte er seine Gastfreundschaft dadurch vergelten, daß er sich an den bescheidenen Tisch der Familie setzte und ihr die kärglichen Bissen schmälerte?

Als aber der Abend mehr und mehr fortschritt, als Hunger und Erschöpfung seine letzte Kraft zu verzehren drohten, lenkte er seine Schritte wie unter einem unwiderstehlichen Zwange nach dem Punkte der Stadt, wo ihm allein noch Hilfe winkte. Jetzt bog er mit dem äußersten Aufgebot seiner fast versagenden Kräfte in die Straße ein, in der Schuckmann wohnte. Die große runde Uhr im Schaufenster des Uhrmachers an der Straßenecke zeigte die zehnte Stunde. Ein Zittern wahnsinniger Furcht befiel den Vorüberwankenden. Wenn er zu dpät kam, wenn das Haus geschlossen und alle Hoffnung auf Rettung ihm abgeschnitten war! Das Verlangen nach Wärme, nach Nahrung verdrängte jede andere Regung und jedes Bedenken in ihm, und die letzten Schritte bis zur Wohnung des Freundes legte er laufend zurück. Nun stand er, tief aufathmend, im Hausflur, im Gefühl der Sicherheit, der nahen Rettung. Mühsam schleppte er sich die Treppe hinauf; vor der wohlbekannten Thüre blieb er ein paar Minuten stehen, keuchend, noch einmal zaudernd im Widerstreit seiner Empfindungen. Dann klopfte er.

Die Frau seines Freundes öffnete und blickte in den schlecht erleuchteten Flur hinaus. „Wer ist da?“ Aber schon erkannte sie den wortlos vor ihr Stehenden. „Sie, Mister Buschenhagen? Bitte, treten Sie ein! Wir haben Sie schon lange erwartet,“ Sie führte ihn durch die Küche in das Wohnzimmer.

Erwin stand wie betäubt und tastete unwillkürlich nach der Lehne des nächsten Stuhles. Der plötzliche Wechsel zwischen Dunkelheit und Kälte, zwischen Licht und Wärme machte ihn schwindlig; er fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Die kleine Frau beobachtete ihn erstaunt, und jetzt erst sein Zittern und die Blässe seines Gesichtes gewahrend, rief sie erschreckt: „Was ist Ihnen? Sind Sie nicht wohl? Rasch setzen Sie sich!“

Er ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. Dann nahm er sich mit aller Kraft zusammen und beruhigte die besorgte Frau, die jetzt an die Kommode trat und mit einem Brief in der Hand zu ihrem Gaste zurückkehrte.

„Das ist für Sie gekommen. Wir waren schon recht unruhig Ihretwegen, weil Sie gar nicht kamen. Haben Sie denn die Postkarte, die mein Mann an Sie schrieb, nicht erhalten?“ Erwin verneinte und betrachtete mit dumpfer Verwunderung die Aufschrift des Briefes, den ihm Frau Schuckmann einhändigte und der neben der Adresse Schuckmanns seine eigene trug. Was sollte das bedeuten? Doch er hatte keine Zeit, über diese Frage nachzudenken, denn die Gattin seines Freundes wandte sich von neuem an ihn. „Ja, wohnen Sie denn nicht mehr in Ihrem früheren Boardinghaus, Mister Buschenhagen?“

Der Gefragte senkte den Kopf unb stammelte ein leises: „Nein.“

„Nicht? Aber wo denn jetzt, Mister Buschenhagen?“

Keine Antwort. Einen Augenblick herrschte eine so völlige Stille in dem Zimmer, daß man die Athemzüge des kleinen Henry, der schlafend in seinem Bettchen lag, deutlich hörte.

Frau Schuckmann trat noch einen Schritt näher und heftete ihre Blicke forschend auf den schweigend Dasitzenden, der die Augen vor ihr niederschlug. Nun erst fiel ihr auf, daß der späte Gast bloß im Rocke, ohne Ueberzieher, gekommen war, nun erst gewahrte sie sein vernachlässigtes Aeußere, die tief eingesunkenen Augen, die scharfen Linien um den Mund, welche Hunger und Noth eingezeichnet hatten. Und die wahre Lage des Unglücklichen ahnend, rief sie erschüttert: „Sie haben Ihre Stellung verloren, Mister Buschenhagen – Sie haben Johnnys Karte gar nicht erhalten können, weil Sie –“ sie hielt bestürzt inne, denn sie empfand, wie demüthigend das alles für ihn sein mußte. Ohne ein Wort weiter zu verlieren, schlüpfte sie in die Küche und brachte Brot, Butter und kaltes Fleisch herbei. Dann holte sie einen Topf mit dampfendem Thee, der auf dem Kochherd für ihren Mann bereit gestanden hatte, und goß davon in ein sorglich vorher gewärmtes Wasserglas. „Schnell, langen Sie zu, Mister Buschenhagen,“ sagte sie herzlich. „Es ist kalt draußen, ein Glas Thee wird Ihnen gut thun.“

Und Erwin, von den Entbehrungen und Kämpfen der letzten Tage aller Widerstandskraft beraubt, ergriffen von dem zarten, stillen Walten der kleinen Frau, konnte es nicht hindern, daß ihm die hellen Thränen über die bleichen, eingefallenen Wangen rannen. Er war auch nicht imstande, was ihm das Herz bewegte, in hörbaren Lauten wiederzugeben, er sah nur mit einem stummen, unbeschreiblichen Blick zu der blonden Frau hinüber, die ihm mit dem Kranz goldenen Haares auf dem Scheitel wie ein Engel der Barmherzigkeit erschien, Dann aber machte er sich, ohne eine zweite Einladung abzuwarten, über Speise und Getränk her und der wilde Hunger forderte sein Recht.

Indessen hielt sich die junge Frau still im Hintergrund und machte sich am Bett ihres Knaben zu schaffen; nur ab und zu warf sie einen verstohlenen Blick auf den Essenden, und je tapferer sie ihn einhauen sah, desto befriedigter leuchtete ihr freundliches Gesicht.

Endlich hielt er inne und lehnte sich in dem wohligen Gefühl der Wärme und der Sättigung einen Augenblick wie selbstvergessen behaglich in seinen Stuhl zurück. Dann aber richtete er sich erschrocken wieder auf und schickte sich an, mit unsicheren Worten seinen Dank auszusprechen.

Sie aber fiel ihm sofort in die Rede. „Wollen Sie jetzt nicht Ihren Brief lesen, Mister Buschenhagen? Sie müssen wissen,“ setzte sie erläuternd hinzu, während er neugierig nach dem Schreiben griff, das er vorhin unerbrochen beiseite gelegt hatte, „vor ein paar Tagen las Johnny eine Anzeige in der ,Staatszeitung‘, und da er meinte, das sei etwas für Sie und weil keine Zeit zu verlieren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 775. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_775.jpg&oldid=- (Version vom 28.1.2023)