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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Aus Anzengrubers Werde- und Wanderzeit.

Von Anton Bettelheim.


Auf dem geweihten Boden der Ehrengräber des Wiener Centralfrriedhofes, in nächster Nähe der letzten Ruhestätten von Beethoven und Schubert, erhebt sich seit Allerseelen das Grabdenkmal, das die Getreuen Anzengrubers dem genialen Volksdichter aufrichten ließen. Das Denkmal, die preisgekrönte Schöpfung des jungen Bildhauers Johann Scherpe, greift ans Herz wie die kernigen Gestalten des großen Dramatikers; wir sehen ein Bauernmädchen unterwegs jählings stillhalten und lautaufschluchzend den Pfahl eines „Marterls“ umklammern, dessen Votivbild porträttreu die Züge Ludwig Anzengrubers wiedergiebt; das Kind des Volkes kann sich nicht trösten darüber, daß ihm – und nicht nur ihm - ein unersetzlicher Helfer und Fürsprecher, ein „Seelsorger auch außer der Kirche“, vorzeitig entrissen wurde. Kein Zweifel, daß Anzengruber selbst an diesem Bildwerk Wohlgefallen gefunden hätte: es stellt die Sache des Volkes, für die er „bis zum letzten Athemzug sich selbst getreu“ gelitten und gestritten, in den Vordergrund. Der Geist des Dichters hat auf dem Bildhauer geruht, als dieser das Denkmal schuf: Anzengruber selbst hat unbewußt an seiner bildnerischen Verherrlichung mitgeholfen. Es war ihm aber auch beschieden, seiner Verklärung noch in anderer Weise die höchste Weihe zu geben: am Vorabend der Enthüllung seines Denkmals eroberte sich sein „Meineidbauer“ das ihm bisher verschlossene Burgtheater, und lebendiger als je zuvor erkannten die Landsleute den ganzen Werth des Mannes.

Ludwig Anzengruber.

Tief ergriffen ist der Herold der ersten Erfolge des Lebendigen bei diesem Anlaß auch als Herold der jüngsten reichen Ehren seines geschiedenen Lebensfreundes hervorgetreten: am Tage der Anzengruber-Feier überraschte uns P. K. Rosegger in der „Deutschen Zeitung“ mit einem Festgedicht, überschrieben

 „Dem Andenken Anzengrubers.“

„Ein Weihgesang, ein Frohgesang springt heut’ aus meiner Leier,
Am Grabe der Unsterblichen giebt’s keine Totenfeier.
Ihr seht mit Stolz und Dank des Meisters herrliches Vollbringen,
Ich wüßt’ von seinem Menschenthum ein rührend Lied zu singen.
Sein Haupt ist schön, auch wenn ich es des Lorbeerzweigs entblöße;
Wohl, Dichterkönnen preis’ ich hoch, noch höher Menschengröße.
Die Freunde denken herzbewegt an dieser Stell’ aufs neue
An seines Wesens schlichte Art, an seines Herzens Treue;
Dle Wahrheit, die im Worte er gefeiert und gespiegelt:
Im Leben durch Wahrhaftigkeit hat er sie, traun, besiegelt.
Sein Leben war ein Heldenstreit. Sein plötzliches Erliegen
Hat erst uns aufgeweckt zu ihm. Sein Fallen war sein Siegen.“

„Sein Fallen war sein Siegen“: so wahr die Worte sind, so traurig stimmen sie jeden, der Anzengrubers Lebenslauf, ein langes, mutig und schweigend getragenes Martyrium, kennt. Im äußeren Umriß sind die Schicksale des tapferen Dulders den Lesern der „Gartenlaube“ wohl vertraut; sie wissen, daß der Vater unseres Dichters, ein kleiner Beamter, der in seinen Mußestunden Tragödie auf Tragödie schrieb, im Jahre 1844 starb, als der Kleine kaum vier Jahre alt war, und daß fortan einzig und allein die Mutter mit einer Jahrespension von 160, schreibe einhundertundsechzig Gulden sich und ihr Söhnlein durchschlagen mußte. „Was diese Mutter ist,“ so schrieb Anzengruber bei ihren Lebzeiten in Aufzeichnungen, die ich im Nachlaß gefunden habe, „das steht in den Blättern meines Herzens mit großen Buchstaben eingeschrieben und ich brauche nicht dieselben aufzuschlagen, denn, die das Glück haben, eine Mutter zu besitzen, würden den alten breiten Druck recht gut kennen, sich lächelnd zu mir wenden und dle gleichen Blätter aufblättern, und die’s nicht verständen – (für die wär’ jede Müh’) umsonst.“ Nach ihrem Tode aber, der 1875 erfolgte, klagte er, der sonst so Verschlossene, dem getreuen Rosegger, er sei auf dem besten Wege, gemüthskrank zu werden: „Ich habe nicht nur das Weib, das mich geboren, die Mutter, die für mich Unmündigen gesorgt, ich habe meine beste Freundin verloren, ein Stück meines Herzens, meiner Seele.“ Ihr las der Aufstrebende wie der anerkannte Dichter jeden seiner Entwürfe vor; ihren Familiennamen, Herbich, legte er seiner mächtigsten Frauengestalt, der Großmutter im „Vierten Gebot“, diesem Urbild aller Bürgertugend und Herzensgüte, bei; ihr Andenken ist von dem des Sohnes so wenig zu trennen wie das der Frau Rath von dem Namen Goethes.

Anzengrubers Mutter.

Die wackere Frau, die im Elternhause bessere Zeiten gesehen hatte, trug in Liebe und Ergebung alle Noth mit ihrem einzigen Kinde. So lange die Mittel reichten, ließ sie den Jungen die Realschule besuchen, und als es galt, für den Lebensunterhalt Ludwigs aufzukommen, der als unbesoldeter Lehrling eines Buchhändlers nicht viel mehr lernte, als Pakete machen, stellte sie sich ohne weiteres hinter den Ladentisch einer „Pfaidlerin“ (Zeugladen) auf der Wieden. Ebenso selbstverständlich war es, daß sie, die eingewurzelte Wienerin, dem Sohne als Hausmütterchen in die Fremde folgte, als dieser, von unbezwinglichem Drange getrieben, sein Heil als Schauspieler versuchte. Dramatische Neigungen steckten ihrem Ludwig vom Vater her im Blut; von klein auf dramatisierte er, der „früher dichten als schreiben“ konnte, aus dem Stegreif jede erreichbare Geschichte, besonders gern die Blaubartsage, die er sofort mit der – Köchin des Hauses tragierte; höchst ergötzlich berichtet er, wie er bei solchem Anlaß einmal dermaßen schrie, daß der erschrockene Hausmeister herbeieilte im Glauben, es sei ein Unglück geschehen. Und so stark war diese Theaterleidenschaft, daß sich, so karg die Wirthschaft der Witwe Anzengruber auch sonst bestellt war, doch Mittel und Wege für den Jungen fanden, auf die letzte Galerie des Burgtheaters oder in das „Paradies“ der Vorstadtbühnen sich zu schleichen.

Der erste Theaterbesuch des Fünfjährigen galt der Jenny Lind, die er, als echter Wiener, nur „die schöni Lind“ nannte. Den gewaltigsten Eindruck auf den Halbwüchsigen machte dann Heinrich Anschütz als alter Miller in „Kabale und Liebe“; oft hat er mir Rede und Gebärde des verzweifelnden Vaters wiederholt, der die Brotlade aufzieht mit dem Wehruf: „Hier ist ein Messer, durchstich Dein Herz und – (laut aufweinend) – das Vaterherz!“ Ebenso nachhaltig ergriff ihn hernach Dessous „Narziß“, eine Bekanntschaft, die nicht ohne Einfluß auf seinen Wurzelsepp geblieben ist. Und wie auf den Gipfeln der Schauspielkunst, so trieb er sich auch in den Niederungen des Volksstückes alten Schlages umher; sein erster dramatischer Versuch war eine „Nestroyiade“. Unwiderstehlich zog seine Sinnesart den Jüngling endlich selbst auf

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 797. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_797.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2023)