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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

ins Bewußtsein zurückzurufen, und nach einigen bangen Minuten gaben Sie ein schwaches Lebenszeichen von sich. Da der Landungsplatz des Dampfers nicht weit von meiner Wohnung entfernt war, so ließ ich Sie hierher schaffen und zugleich gelobte ich mir: wenn es gelänge, Sie zu retten, so wollte ich wieder gutmachen, was ich an Ihnen verschuldete.“

Das alles wurde mit so gewinnendem Freimuth, mit so aufrichtiger, schlichter Empfindung gesprochen, daß es Erwin aufs tiefste bewegte; aber noch betäubt von dem jähen Wechsel seiner Lage, vermochte er nicht sogleich Worte des Dankes zu finden. Stumm ergriff er beide Hände des neugewonnenen Freundes, Wagner aber zog seinen Gast aufs Sofa, und sich an seiner Seite niederlassend, begann er von neuem: „Es wäre ein Leichtes, Ihnen in der Fabrik meines Prinzipals eine Anstellung zu verschaffen, aber damit wäre Ihnen wenig und auch nur für die nächsten Wochen geholfen. Eine solche Thätigkeit ist nichts für Sie. Was Ihnen noth thut, ist eine sichere, feste Lebensstellung, eine Beschäftigung, die Ihnen zusagt. Da ist mir nun vorhin ein Gedanke gekommen, der – der –“

Der Sprechende kam plötzlich ins Stocken, und als er jetzt Erwins fragenden Blick auf sich gerichtet sah, sagte er ablenkend: „Ich ermüde Sie, Sie fühlen sich gewiß noch angegriffen und –“

Doch Erwin verneinte, und inzwischen hatte auch Wagner seine Verlegenheit überwunden. In seiner frischen, entschiedenen Weise fuhr er fort: „Was ich Ihnen vorschlagen möchte, ist eine Art Kompagniegeschäft. Meine Stellung ist ziemlich einträglich und so habe ich schon ein nettes Sümmchen beiseite gelegt. Dazu besitze ich ein kleines Vermögen von meinen Eltern her, das Klara, nachdem der Tod unsere arme Mutter von ihrem langjährigen Leiden erlöst hatte, mit herüberbrachte. Es liegt mir daran, das Geld, wenigstens zum Theil, zu besseren Zinsen als bisher anzulegen. Zugleich möchte ich für meine Schwester, die ihre Stellung bei Beelitz aufgegeben hat und die sich wieder nach Thätigkeit sehnt, eine möglichst selbständige Beschäftigung finden. Wie wäre es, Herr von Buschenhagen, wenn Sie nach dem Muster der Beelitz-Schule drüben in Brooklyn eine Sprachschule errichteten? Sie ertheilen den Unterricht, Klara, die gut englisch spricht, versieht das Geschäftliche und ich – ich strecke Ihnen das nöthige Geld vor. Fünfhundert Dollar werden vorderhand reichen. Natürlich“ – Wagner sprach das Folgende mit einer gewissen Hast und bemühte sich, eine kalte, geschäftliche Miene anzunehmen – „natürlich verzinsen Sie mir das Geld, zu sechs Prozent. Billiger kann ich es Ihnen nicht geben.“

Erwin war ganz roth geworden. Eine Minute lang kämpfte er einen schweren Kampf mit sich, dann entgegnete er fest: „Herr Wagner, Ihr Anerbieten und die Art und Weise, wie Sie es mir machen, zeugt von einer so vornehmen Gesinnung und einem so guten Herzen, daß mir das, was ich Ihnen einst zugefügt habe, doppelt schwer auf die Seele fällt. Ich bitte Sie für das alles nochmals aufrichtig um Verzeihung. Für Ihr edles Anerbieten aber muß ich Ihnen herzlich danken – ich kann es nicht annehmen.“

„Nicht?“ Wagner schaute ihn ganz bestürzt an. „Aber warum denn nicht, warum?“

Erwin blieb einen Augenblick still, dann sagte er langsam: „Ich kann es von Ihnen nicht annehmen, weil – weil Sie Klaras Bruder sind.“

Wagner suchte Erwin zu unterbrechen, aber dieser fuhr fort: „Sie wissen, daß ich einst gewissenlos gegen Klara gehandelt habe. Ich lebte und handelte im Bann ererbter Anschauungen, von denen ich mich – ich gestehe es zu meiner Schande – auch noch hier lange Zeit nicht frei machen konnte. Jetzt freilich habe ich erkannt, und Sie, Herr Wagner, haben nicht wenig zu dieser Erkenntniß beigetragen, daß der Werth eines Menschen sich nicht nach seinen äußeren Verhältnissen richtet, sondern nach dem, was in ihm steckt, nach seinem Charakter, seinem Herzen. Nach diesem Maßstab gemessen, steht Ihre Schwester weit über mir und ich, der ich nichts sehnlicher wünsche, als ihre Achtung, ihre Liebe, die ich so leichtsinnig verscherzte, wiederzugewinnen – ich muß dermaleinst mit gutem Gewissen, frei von jeder Nebenabsicht vor sie hintreten können, damit ihr nichts den Glauben an meine Aufrichtigkeit zu stören vermag. Und darum, Herr Wagner, darum kann ich Ihr Anerbieten, so gut es gemeint ist und so dankbar ich Ihre Güte empfinde, nicht annehmen.“

Franz hatte den Worten seines Gastes in athemloser Spannung gelauscht. Nun, da Erwin schwieg, leuchteten seine Augen, während sein Gesicht sich langsam bis zur Stirn mit dunkler Röthe färbte. Und dann kam es in überquellender Freude aus seinem Munde: „Daß Sie, Herr von Buschenhagen, so sprechen und so handeln, das – das freut mich von Herzen, denn es beweist mir, daß Klara doch die rechte Wahl getroffen hat. Und nun kann ich es Ihnen ja auch verrathen, daß sie nie aufgehört hat, Sie zu lieben, so bitter sie auch gegen Sie gewesen ist. Ich kann es Ihnen nicht sagen, wie glücklich mich Ihre Worte machen und nun – nun ist es erst recht schade, daß Sie meine Hilfe nicht annehmen wollen. Aber ich verstehe Sie und vermag Ihnen nachzufühlen.“

Nach einer Weile, während der die beiden Männer schweigend dasaßen, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, fügte Franz mit hoffnungsloser Miene hinzu: „Haben Sie denn gar keinen Freund, keinen Bekannten, der Ihnen das bißchen Geld vorstrecken könnte?“

Erwin wollte schon verneinen, da durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke: Schuckmann! Der hatte ihm ja als treuer Kamerad das Versprechen abgenommen, sich seiner Hilfe zu erinnern, wenn er sich sonst keinen Rath wisse! Und Schuckmann hatte Geld. Wieviel freilich, das wußte er nicht. Aber im Nothfall ließ sich auch mit wenig etwas anfangen; jedenfalls bot sich hier eine Aussicht.

Das drängte sich Erwin mit der Schnelligkeit einer Sekunde durch den Sinn, und ganz erfüllt von dieser Möglichkeit, erzählte er dem aufmerksam Zuhörenden von den Schicksalen seines Freundes, von dessen treuer Kameradschaft. Und Wagner pflichtete seinem Plane bei, Schuckmann für die Gründung einer Sprachschule zu gewinnen.

Noch am Abend desselben Tages machte sich Erwin auf den Weg zu Schuckmann. Die Hoffnung auf eine neue schönere Zukunft hatte ihm mit einem Schlag seine Kraft wiedergegeben. Er fühlte sich voll Lust, zu leben, voll frohen Vertrauens in das Gelingen seines Planes. Als ihm Frau Libby die Flurthüre geöffnet hatte, schallte ihm das helle Jauchzen einer Kinderstimme entgegen und vom Gesicht der kleinen Frau leuchtete ein freudiges Willkommen. Im Wohnzimmer bot sich ihm ein wunderlicher Anblick. Schuckmann lag auf Händen und Füßen um Fußboden und auf dem Rücken saß ihm der kleine Henry, vergnügt mit den Beinchen strampelnd und luftig ein über das andere Mal ein helles: „Hühl Hüh!“ ausrufend.

Erwin nahm den Kleinen in seine Arme und küßte ihn auf die Wangen, die wieder in der alten gesunden Frische prangten. Schuckmann erhob sich und reichte dem Freunde herzlich die Hand.

„Na, Buschenhagen,“ redete er ihn an und seine Augen blitzten, „lassen Sie sich endlich wieder einmal sehen? Wir glaubten wahrhaftig schon, Sie wandelten nicht mehr unter den Lebenden.“

Erwin lächelte ernst. „Hätte um ein Haar so kommen können, Schuckmann,“ antwortete er. Und nachdem sie alle Platz genommen hatten, legte er eine vollständige Beichte über seine Erlebnisse der letzten Wochen ab. Mit ernstem Gesicht hörten die beiden seine Schicksale an. Als er zu dem Anerbieten Wagners gekommen war, ihm in der Fabrik von Hoe und Kompagnie eine Stelle zu verschaffen sprang Schuckmann lebhaft auf. „Ein prächtiger Mensch, dieser Wagner, mit dem müssen Sie mich bekannt machen, Buschenhagen! Und was wollen Sie thun? Wollen Sie die Stelle annehmen?“

Erwin zögerte mit der Antwort, dann entgegnete er stockend: „Wagner meinte, eigentlich wäre das doch keine Arbeit für mich, es sei auch nicht von Dauer. Darum machte er mir einen anderen Vorschlag.“ Er hielt inne und wußte nicht recht, wie er sein Anliegen am besten vorbringen sollte.

„Und dieser Vorschlag ist?“

Erwin besann sich nicht länger. „Sagen Sie ’mal, Schuckmann,“ fragte er rasch, „wollen Sie ewig Pferdebahnschaffner bleiben?“

„Bin ich längst nicht mehr! Die Stelle war natürlich besetzt, als ich mich wieder zum Dienst meldete. Etwas mir Zusagendes habe ich noch nicht gefunden. Inzwischen habe ich mich mit allerlei Handlangerarbeiten so durchgeschlagen, um nicht vom Baren zu leben.“

„Kamerad“ – Erwin raffte seinen ganzen Muth zusammen – „ich will Ihnen einen Vorschlag machen, wie uns beiden zu helfen ist.“

Schuckmann blickte den Sprechenden erstaunt an.

„Sie wissen,“ fuhr Erwin fort, „Beelitz ist auf dem Wege, ein reicher Mann zu werden. Seine Schule hier in New York steht im Flor, ebenso die Zweiganstalten in Philadelphia und Chicago. Na, was Beelitz kann, sollten wir beide zusammen auch fertigbringen. Was meinen Sie, wenn wir drüben in Brooklyn eine Sprachschule gründeten, nach ähnlichem Muster?“

Schuckmaun starrte den Freund an, als entdeckte er plötzlich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 831. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_831.jpg&oldid=- (Version vom 30.1.2023)