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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Nr. 50.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Das alte Paar.

Zwei Alte sitzen in Einsamkeit
Zusammen in fröhlicher Weihnachtszeit. –
Sie schmücken keinen Tannenbaum,
Kein Kinderjubel füllt den Raum.

5
Sie blicken in den Hof hinaus –

Zwei Bäume stehen vor dem Haus.
Was wohl die Alten bewegen mag?
Sie pflanzten die Bäume am Hochzeitstag.

Vor vielen Jahren ist das gescheh’n. –

10
Um Stamm und Gezweig sich die Flocken dreh’n.

Der Greis zur Greisin leise spricht:
„Freust Du Dich unsrer Bäume nicht?
Als schlaflos war ich in der Nacht,
Hab’ ich davon ein Lied erdacht.

15
Wie alles Dein, was ich fühl’ und denk’ –

Ich geb’ es Dir heut’ zum Christgeschenk!“

 *  *  *
Zwei Bäume standen vereint im Hag
Am leuchtenden, duftenden Maientag.
Sie waren jung und trugen stolz

20
Der Blüthen viel auf grünem Holz.

Da pfiff der Fink den hellen Reim,
Da war der Nachtigall Daheim.
Der Sommer kam, und der Mai verstrich –
Wer waren die Bäume? Du und ich!

25
Zwei Bäume streckten die Wipfel weit

In flammender, glühender Sommerzeit,
Daß nicht zu heiß die Sonne schoß
Die Strahlen auf den Wurzelsproß,
Daß nicht der Regen fiel zu dicht

30
Auf ihn, der trieb empor zum Licht.

So deckten wir unsre Sprößlein zu,
Wir beiden Bäume, ich und Du.

Der Herbst ist kommen, es fällt das Laub;
Die Blumen, sie werden des Frostes Raub.

35
Noch ragt des Baumespaars Geäst,

Denn Wurzel wuchs in Wurzel fest,
Und eins läßt von dem andern nicht,
Ob Zweig an Zweig der Sturm auch bricht.
Sie heben noch zum Himmel sich,

40
Die beiden Bäume, Du und ich.


Wie lang’ die Bäume noch halten Stand,
Steht in des ewigen Vaters Hand.
Ob ich, ob Du zuerst verdorrt –
Wir fügen still uns seinem Wort

45
Und leben fromm der Zuversicht:

Der harte Tod, er trennt uns nicht!
Wir sprossen auf aus des Sarges Truh’
Zu ew’gem Leben, ich und Du!

Und kommt der Winter und heißt’s: „Ade!“ –

50
Wer übrig bleibt, hat das schlimmste Weh;

Dann sei’s der Trost der Herzenswund’:
Bald kommt des Wiedersehens Stund’,
Und nichts mehr giebt's, kein Leiden, kein’s,
für die, die so tiefinnen eins! – –

55
Mach’, Vater, einst dies Hoffen wahr

Dem altgeword’nen Baumespaar!
 Emil Rittershaus.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 837. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_837.jpg&oldid=- (Version vom 21.12.2023)