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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

große weiße Katze war ihnen entgegengesprungen und hatte Pintsch sehr freundlich begrüßt.

„Die beiden vertragen sich schon,“ beruhigte Fräulein Klara den Nachbar. „Wenn Pintsch hier ist –“

„Hier?“

„Ach ja, Herr Doktor,“ erklärte sie, „hoffentlich nehmen Sie mir’s nicht übel. Der arme Pintsch heulte immer so, wenn Sie abends nicht da waren, und da habe ich ihn meist zu mir geholt, bis Sie wieder kamen.“

„Also deshalb!“

„Ja,“ meinte sie unter leisem Lachen, „der Jakob war’s wohl nicht, wie Sie in Ihrer reizenden Erzählung gesagt haben.“

Die hatte sie also auch gelesen!

Ihre Lampe war unterdessen angezündet. In zwiefacher Helle lag das Zimmer vor Franz Rainers Augen, einfach aber anheimelnd eingerichtet, wie es nur Frauenhand und Frauensinn versteht.

„Ach Gott,“ klagte das Fräulein „nun ist mein Ofen nicht eingelegt, und Frau Schütz hat den Kellerschlüssel mit und ist ausgegangen, und das alte Paar unten im ersten Stock ist auch nicht daheim!“

Franz segnete die ausgeflogenen Herrschaften von ganzem Herzen. „Hier können Sie aber nicht bleiben,“ sagte er mit Würde; „bedenken Sie doch Ihre Gesundheit, und dann die arme Katze! Wenn ich mir vielleicht gestatten dürfte, Ihnen mein bescheidenes Zimmer –“

Sie erröthete ein wenig und sah ihn prüfend an, dann nickte sie und nahm dankend an.

„Dann müssen Sie mir aber auch erlauben, Fräulein, daß ich Ihnen eine Tasse Thee bereite,“ sagte Franz, während die viecköpfige Karawane über den Gang schritt, und war überaus glücklich, als sie auch das annahm, ohne irgend einen Zweifel an seiner Kochkunst zu äußern.

„Nun will ich mir aber mein Gastrecht verdienen,“ meinte Klara, als sie auf dem Sofa Platz genommen hatte. „Ich sah Sie vorhin mit einer Arbeit beschäftigt, die ich Ihnen wohl abnehmen darf, Herr Doktor!“

Franz Rainer erhielt nun Unterricht im Rockflicken. Die Lehrerin verstand es jedenfalls aus dem Grunde. Ob aber der Schüler etwas behielt, ist zweifelhaft, denn er guckte nur immer auf die flinken weißen Hände und dann verstohlen auf den braunen Scheitel und den schönen Nacken und gar nicht auf das Lehrobjekt. Darüber ließ er die Theemaschine überkochen, worauf ihm auch dieses Ressort entzogen wurde.

Aus der angebotenen Tasse Thee wurde übrigens unter vielem Lachen und einigem Erröthen ein regelrechtes Picknick, denn Klara ließ es sich nicht nehmen, auch aus ihren Vorräthen beizusteuern. Nach dem Abendbrot mußte Franz sich seine Cigarre anzündest, und während Pintsch, Jakob und Monnes – so hieß der weiße Kater – von zarten Händen einige Leckerbissen erhielten, plauderten die beiden Nachbarsleute miteinander.

Klara Meinhold erzählte aus ihrem bescheidenen Leben. Sie war geprüfte Lehrerin, gab Privatstunden und war auch an einem Pensionat thätig, dessen Leiterin eine ziemlich strenge Dame zu sein schien: nach Franz Rainers Empfinden mußte der ein schrecklicher Drache sein, der gegen seine schöne Nachbarin streng sein konnte. Die Eltern Klaras waren tot, der Vater war früher ein kleiner Kaufmann in einer Nachbarstadt gewesen. Dorthin hatte Karra heute wie alljährlich ihre Allerseelen-Reise gemacht.

Franz erwähnte, daß auch er heute auf dem Friedhofe gewesen sei. „Gewiß an theueren Gräbern,“ meinte sie schüchtern.

„Ach nein,“ antwortete Franz traurig. „Meine Mutter habe ich ganz früh verloren, sie liegt weit, weit von hier, in New-York, und mein Vater hat ein gar großes Grab gefunden – er ging mit seinem Schiffe vor zwölf Jahren unter, in einem Taifun, an der chinesischen Küste.“

„Und Sie haben gar keine Verwandten mehr?“ fragte Klara mit einem Blick voll Mitleid aus ihren Rehaugen.

„Gar keine. Ich stehe ganz allein.“

„Wie traurig! Ich, ich habe doch noch Tante Martha – sie ist zwar nie sehr gut zu uns gewesen, meines Vaters Ehe hat sie mit ihm entzweit – sie war seine einzige Schwester. Aber ich habe doch noch ein Lebendes, für das ich beten kann.“

Franz nahm sich fest vor, von heute an auch so reich zu sein.

Sie plauderten aber auch über minder traurige Dinge: über Jakob, Pintsch und Mones, welche aufmerksam zuhörten, sehr geschmeichelt, daß die beiden Menschenkinder ihre werthen Namen so oft erwähnten, dann über Musik und Litteratur, wobei sich herausstellte, daß Klara die jüngste Veröffentlichung ihres Nachbars sehr genau kannte. Zuletzt tranken sie sogar feierlich auf gute Nachbarschaft, er mit einem Glase Grog und sie mit einem Glase heißen Zuckerwassers, in welchem drei Tropfen Rum verlorengegangen waren, und als dann Fräulein Klara die Sitzung aufhob und sich die Thür auf der andern Seite des Ganges hinter ihr und Mones schloß, faßte Franz den nichtsahnenden Pintsch in die Arme und gab ihm einen Kuß mitten zwischen seine zottigen Ohren.

*  *  *

Ja! – In China, wo so vieles anders ist als bei uns, soll man auch die Kunst verstehen, mit ein und demselben Wort, je nach der Betonung, die verschiedenartigsten Gegenstände zu bezeichnen. Es ist gewiß etwas Wunderbares um eine Sprache, in der sich zum Beispiel Stiefelwichse und Rahmbutter nur durch die Betonung unterscheiden. Aber das ist noch gar nichts gegen die Unmenge von Bedeutungen, welche wir Deutschen in jenes eine, kleinste und mächtigste Wörtchen unserer Sprache legen können – und die Krone von alledem war das „Ja!“, welches Fräulein Klara Meinhold als eigenes Patent besaß und anwandte, wenn sie irgend eine Behauptung oder Lehre hörte, die sie nicht gleich widerlegen konnte, aber um nichts in der Welt annehmen wollte. „Ja!“ Sie sprach es milde und heiter aus, genau wie andere Menschen ein vergnügt erstauntes „Ei!“ hören lassen, und lächelte freundlich dazu. Es sah gar nicht gefährlich aus und doch konnte sie mit diesem Lächeln und dieser Silbe den stärksten männlichen Geist in seinem Glauben an die eigenen Ansichten wankend machen.

Franz Rainer bekam diesem „Ja!“ in den ersten Wochen ihrer Bekanntschaft recht oft zu hören, und die Zuversicht, mit welcher er Klara anfangs von seinem realistischen Menschenstudium und seinen Einsiedlerplänen erzählt hatte, litt merklich darunter. Uebrigens nahm ihre nachbarliche Freundschaft trotzdem die schönste Entwicklung, sie sahen sich täglich, er las ihr vor, lauschte ihrem Gesang, plauderte mit ihr, und auch das Picknick fand seine häufige Wiederholung.

Eines Abends saßen sie nach dem Thee auf Klaras Zimmer. Sie beschäftigte sich mit einer Handarbeit, Franz saß ihr gegenüber und las ihr eine Novelle von Tieck vor. Sie hatte ihn gebeten, ihr einmal etwas von diesem Dichter mitzutheilen, von dem sie in der höheren Mädchenschule nur Geburts- und Sterbejahr und einige andere Notizen gelernt hatte. Vor dem kleinen Ofen lagen Pintsch und Mones nebeneinander, während Jakob auf der Schulter seines Herrn saß und ernsthaft mit ins Buch guckte. Dazu summte der Wasserkessel leise, und draußen pfiff zuweilen ein Windstoß durch die Dachluken und Schornsteine.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 850. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_850.jpg&oldid=- (Version vom 8.5.2023)