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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Rolle spielt. Die heutigen Thugs geben sich auch für Heirathsvermittler aus, leiten Zusammenkünfte heirathslustiger Personen ein, vergiften sie beim Verlobungsfest und berauben sie dann ihres Schmuckes, ihres Geldes und ihrer Festkleider. Einer dieser als Heirathsvermittler auftretenden Thugs fiel erst in die Hände der englischen Gerichte, nachdem er neunzehn Giftmorde verübt hatte. Werden die Thugs im Besitz von Gift betroffen, so behaupten sie, daß sie es in kleinen Gaben zur Heilung von allerlei Krankheiten selbst zu sich nehmen, und thun dies vor den Augen der Zweifler auch wirklich.

Welch fürchterliche Gesellen diese Mörder aus religiösem Wahn sind, mag man daraus ermessen, daß man für die Zeit vor ihrer ersten planmäßigen Verfolgung - fiel in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts - jährlich nach niedriger Schätzung 15 000 Opfer herausrechnete! Und mit welch abgefeimter Schlauheit die Mitglieder der Kaste sich oft hinter der Maske des ehrsamen Biedermanns zu verstecken wußten, das beweist ein Fall, welchen der Hauptmann Sleeman, der eben mit jener Verfolgung betraute englische Offizier, aufdeckte. In der Stadt Hingoli lebte ein gewisser Huri Singh, seines Zeichens ein Leinenhändler, ein wohlhabender, angesehener Mann, der durch Ehrlichkeit und Wohlbetragen sich die Achtung und Freundschaft nicht nur seiner eingeborenen Bekannten, sondern auch aller daselbst stationierten englischen Offiziere und Beamten erworben hatte. Als nun Hauptmann Sleeman nach Einleitung der umfassenden Maßregeln zur Unterdrückung der Thugs einige seiner bewährtesten Angeber nach dem Dekkan schickte, erkannte einer derselben in eben diesem Huri Singh einen der berühmten Dschemadars oder Hauptleute der Räuber, und die nachfolgende Untersuchung ergab, daß der angebliche Leinenhändler bis zum Tage seiner Gefangennahme insgeheim seinem wirklichen Mordgewerbe nachgegangen war, daß er unter dem Vorwande, neue Vorräthe Leinen von Bombay zu holen, jahraus jahrein von Hingoli aus Raubzüge unternommen und im Bunde mit den Banden von Hindustan sämtliche Straßen des Dekkan unsicher gemacht hatte. Einmal hatte er sich sogar von dem betreffenden Distriktsoffizier einen Paß ausstellen lassen zur Einführung einer gewissen Ladung Zeug, mit welcher, wie er in Erfahrung gebracht hatte, ein Kaufmann aus Bombay nach Hingoli unterwegs war, war dann dem Betreffenden entgegengezogen, hatte ihn und alle seine Leute ermordet, die Waren unter dem Paß nach Hingoli gebracht und dort offen zum Verkauf ausgelegt. Und die Geschichte wäre nie bekannt geworden, hätte nicht der Mörder nach seiner Gefangennahme sie als einen höchst gelungenen Scherz mit Stolz selbst erzählt. Ja, mitten im Bazar des Kantonnements und keine hundert Schritt von der Hauptwache entfernt, waren Dntzende von Reisenden unter den Händen dieses Mannes und seiner Genossen gefallen; die Leichen lagen kaum fünfhundert Schritt außerhalb der Postenketten verscharrt, und doch ahnte kein Mensch im ganzen Orte den wahren Charakter des friedfertigen und ehrbaren Huri Singh.

Weniger unheimlich, aber nicht weniger gefährlich sind andere Banden, welche auf ihren Raubzügen unbedenklich Blut vergießen. Auch bei diesen bilden gewisse Volksstämme, die hauptsächlich im mittleren Indien ansässig sind, den Kern und weihen ihre heranwachsenden Kinder in ihre verbrecherischen Ueberlieferungen und Erfahrungen ein. Es giebt dort in den Schutzstaateu wohlhabende Ortschaften, welche fast ausschließlich voll Räubern bewohnt werden. An Ort und Stelle und in der Nähe lassen sich diese nichts zu Schulden kommen; sie ziehen als angebliche Wallfahrer, Händler oder Vogelsteller, welche für die Lieferanten der großen Putzgeschäfte Vögel fangen, in entferntere Gebiete und rauben dort. Der Reisende, der ein solches Räuberdorf antrifft, sieht vor den durch Buschwerk verdeckten Häusern Kinder spielen und Weiber unter harmlosem Gesang über die Straße gehen. Aber die Harmlosigkeit ist Schein. Die Weiber und selbst die in noch zartem Alter stehenden Kinder suchen den Fremden unmerklich daraufhin abzuschätzen, ob er etwa ein Beamter sei, der hier eine Untersuchung wegen Räubereien anstellen könnte. Der Inhalt des nur den Eingeweihten verständlichen Gesanges und sogar die Art des Tones, in welchem gesungen wird, belehrt und warnt die männlichen Bewohner. Die Ortschaften liegen am Rande ungeheurer Waldungen, und der Zutritt zu den Häusern ist nur durch labyrinthisch angelegte enge Gänge von hohen und dichten

Hecken möglich. Bis ein unkundiger Besucher den Eingang des Hauses findet, ist der Hausbewohner, der ein Zusammentreffen mit dem Besucher vermeiden will, längst geflüchtet und im Waldesdickicht verschwunden.

Die Anführer der Räuberbanden haben in verschiedenen Theilen des Landes Mitwisser und Helfershelfer unter denjenigen Eingeborenen, welche in den Bazaren der Kaufleute, auf den Amtsstuben der britischeu Regierung und bei den Postämtern bedienstet sind. So erfahren sie, wenn Sendungen an Geld und Banknoten, an Gold- und Silberbarren, an Perlen, Edelsteinen und anderen kostbaren Waren, an Opium zur Post gegeben, in Karawanen mitgeführt oder sonst versendet werden. Scheint ihnen ein Ueberfall möglich und lohnend, so rüsten sie eine Anzahl von Räubern aus, die der gleichfalls erkundeten Anzahl der die Werthsendung deckenden Begleitmannschaft etwa um das Dreifache überlegen ist. Billig kommt eine solche Ausrüstung nicht zu stehen, da die Räuber gut beritten sein, oft wochenlang sich gedulden und während dieser Zeit zunächst aus eigener Tasche leben müssen, Sie legen sich an einer sorgfältig ausgewählten Stelle in den Hinterhalt, überfallen und töten oder verjagen die Begleitmannschaft und bringen dann den Raub in Sicherheit. Fürchten sie sofortige Verfolgung, so vergraben sie den Raub und ziehen als anscheinend friedliche Wanderer weiter. Erfahren sie, daß die Verfolger auf unrichtiger Fährte sind oder daß die Verfolgung ganz ruht, so kehren sie um, graben den Raub aus und theilen ihn. In einigen Fällen haben sie sogar Militärkassen der Engländer erbeutest indem sie sich bei Nacht an die aufgestellten Wachtposten heranschlichen und sie durch einen sicheren Stoß töteten, ehe die Getroffenen auch nur einen Laut von sich geben konnten. Auch die auf den Flüssen des Landes verkehrenden Transportschiffe sind vor ihnen nicht sicher. Ferner überfallen sie einsam gelegene Gehöfte, und endlich beschäftigen sie sich mit Kinderraub; heranwachsende Knaben und Mädchen werden von ihnen entführt und in entfernten Orten verkauft, die Knaben, um als Diener, die Mädchen, um als Tänzerinnen erzogen zu werden.

Das Räuberhandwerk ernährt seinen Mann, Die Städte, welche sich die erwähnten Werthe zusenden, gehören zu den ersten Handelsplätzen der Erde, die Absender und Empfänger zu den reichsten Kaufleuten. In den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts ergab ein mehrjähriger Durchschnitt, daß jährlich 2200 Raubanfälle in Indien zur Anzeige kamen, daß von den die Werthsendungen begleitenden Mannschaften 70 getötet und 400 verwundet wurden, daß anderthalb Millionen Mark Werth in die Hände der Räuber fielen, daß nur der elfte Theil dieser Summe ihnen wieder abgenommen werden konnte, und, was das Wunderbarste ist, daß bei den Ueberfällen auch nicht ein einziger Räuber getötet wurde. Verhaftet wurden 10 000 Räuber, und ein Drittel wurde zu Gefängniß, zu Deportation nach den Andamaneninseln oder zum Tode verurtheilt.

Der Verhütung der Verbrechen wie der Entdeckung und Bestrafling der Thäter stellen sich große Schwierigkeiten in den Weg. Die Banden von Räubern und Mördern halten fest zusammen und finden überdies wegen der Furcht, die sie einflößen, bei der eingeborenen Bevölkerung wenig Widerstand, wohl aber vielfach Schonung und Förderung. Nur mit Mühe haben die Engländer erreicht, daß die Kalitempel nicht mehr, wie früher, als Zufluchtsstätten angesehen werden dürfen, die dem Mörder, namentlich dem Giftmörder, welcher sich dort unter den Schutz der zerstörenden Gottheit stellt Straflosigkeit sichern. Nur mit Mühe sind die Eingeborenen bei ihrer Gleichgültigkeit gegen ein Menschenleben dahin zu bringen, daß sie den Behörden überhaupt Anzeige erstatten, wenn unter verdächtigen Umständen eine Leiche aufgefunden wird. Untersuchungen und Nachforschungen stoßen in den Schutzstaaten oft auf das stille Widerstreben der einheimischen Beamten, ja es ist vorgekommen, daß Kleinfürsten mit den Räubern unter einer Decke steckten und einen Theil des Raubes selbst an sich nahmen. Seitdem man abgeurteilte Verbrecher zu Spionen der englischen Polizei verwendet, sind die Mordanfälle etwas seltener geworden, aber noch im Jahre 1888 kamen allein in der Präsidentschaft Bombay 360 Fälle nur von Giftmorden zur Kenntniß der englischen Behörden.

{{right|Dr. E. S.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 863. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_863.jpg&oldid=- (Version vom 17.2.2019)