Seite:Die Gartenlaube (1893) 883.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Erwachen Wests nur ein achttägiger Traum – erst sein zweites Erwachen giebt ihn der Wirklichkeit thatsächlich zurück; und da liest er in der Morgenzeitung des 31. Mai 1887 – wir könnten ebenso gut das Datum des 31. Dezember 1893 hersetzen – von Hungersnoth unter den Arbeitslosen Londons, von Ausständen da und dort etc. Wenn er in der „Gesellschaft“, die ihn erzeugt und großgezogen hat, mit den Grundsätzen Dr. Leetes wirklich hervortritt, dann wird er als taktloser Schwärmer vor die Thür gesetzt, und er steht als einzige fühlende Brust inmitten der Larven des ausgeheuden neunzehnten Jahrhunderts, einsam und verlassen, Thränen überströmen seine Wangen, wenn er des Wunderlandes und der Uebermenschen gedenkt, die er im Traume geschaut.

*      *      *

Nicht so sentimental wie Julian West ist Dr. Karl Strahl, der unternehmende Held, der zur Gründung von „Freiland“ auffordert. Dr. Strahl, d. h. Theodor Hertzka, schließt keinen Kompromiß mit der alten Kultur, er reißt sich vielmehr von ihr vollständig los und fordert muthige Männer und noch muthigere Frauen dazu auf, unter dem Aequator, auf dem fruchtbaren Hochplateau des Keniagebirges, ein neues Gemeinwesen zu gründen, 1200 bis 2200 Meter über dem Meeresspiegel und ebenso hoch über dem Meeresspiegel der europäischen „niederen“ Kultur. Hertzka hat seinem Zukunftsbild „Freiland“, in dem er die Geschichte seiner Kolonie vorweg schildert, noch eine „Reise nach Freiland“ folgen lassen; hier führt er den Leser nach Freiland, als ob es schon bestände; die Vorführung aller Einrichtungen, die hier als vorhanden ausgemalt werden, soll ausgesprochenermaßen in dem Leser „den Entschluß erwecken, das Seinige zu möglichst rascher und großartiger Verwirklichung dieses Gemeinwesens der Freiheit und Gerechtigkeit beizutragen“.

Hertzka ist ein Freund ganz bestimmter Zahlen, mit denen er den wißbegierigen Leser reichlich bewirthet. Schon nach einem Jahre findet man auf der fruchtbaren Keniaplatte 95 000 Menschen, worunter 27000 eigentliche Arbeiter, die in 218 „Assoziationen“ oder Erwerbsgesellschaften vereinigt ihre Thätigkeit entfalten. Die Assoziation, verbunden mit unumschränkter Freizügigkeit und bedingungslosem Zwang öffentlicher Rechnungslegung, ist der Kernpunkt der Hertzkaschen Freilandgemeinschaft. Hertzka wird nicht müde, die Vortheile dieser freien Verbindungen zu wirthschaftlichen Zwecken zu schildern, und er giebt in seiner neuesten Schrift ein Muster für die Satzungen einer derartigen „freiländischen Erwerbsgesellschaft“. „Der Beitritt,“ so lautet § 1, „steht jedermann frei, gleichviel, ob er zugleich Mitglied anderer Gesellschaften ist oder nicht; auch kann jedermann die Gesellschaft jederzeit verlassen. Ueber die Verwendung der Mitglieder entscheidet die Direktion.“ § 2. „Jedes Mitglied hat Anspruch auf einen seiner Arbeitsleistung entsprechenden Antheil am Nettoertrage der Gesellschaft.“ Das Kapital, welches diese freien Vereinigungen nöthig haben, sowie den Boden schießt der Staat d. h. die Gesamtheit ein, in der Weise, daß die Vereinigungen wie die Einzelnen Nutzungs-, Bau-, Transport-, Wohnrechte etc. erhalten. Diese Zuwendungen werden alle nach Mehrheitsbeschlüssen von der allgemeinen Steuer bestritten, die 35 Prozent vom Bruttobuchertrag der Arbeit ausmacht. Zwölf Fachcentralstellen entscheiben die wichtigsten Fragen der Erwerbsgesellschaften; Präsidium, Versorgungswesen, Unterricht, Kunst und Wissenschaft, Statistik, Straßen- und Verkehrswesen, Post und Telegraph, Auswärtiges, Lagerhaus, Centralbank, gemeinnützige Unternehmungen, Gesundheitspflege und Justiz.

Die „Freiländer“ Hertzkas sind also – wie dies auch ausdrücklich ausgesprochen wird – keine Kommunisten, sie gehen nicht von der Ansicht aus, daß alle Menschen schlechthin gleich seien, aber sie halten alle Menschen für gleichberechtigt, und unter dieser Berechtigung ist vor allem zu verstehen „das allen gleichmäßig zu sichernde Recht, zu leben“. Der Grundsatz der sogenannten „bürgerlichen“ Welt, daß sich durch das freie Spiel der wirthschaftlichen Kräfte (auf jener Grundlage) die möglichste Harmonie aller wirthschaftlichen Interessen ganz von selber einstelle, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen Hertzkas, eine Voraussetzung, deren Nothwendigkeit er die besondere Streitschrift „Sozialdemokratie und Sozialliberalismus“ – so bezeichnet er seinen Standpunkt – gewidmet hat. Indem so auf der einen Seite Boden und Kapital dem einzelnen Menschen auf Freiland stets zu freier Verfügung stehen, auf der anderen Seite die volle Entfaltung seiner Arbeitskraft durch die mitstrebenden und mitarbeitenden Genossen in jedem Augenblick gefördert wie kontrolliert zu werden vermag, ist „Freiland die endliche Bewahrheitung alles dessen, was die Kulturwelt sich bisher selber vorgelogen hat“.

Es ist von hohem Interesse, den Wortlaut des „Freiländischen Grundgesetzes“ kennenzulernen, welches nur aus folgenden fünf Artikeln besteht:

1. Jeder Bewohner Freilands hat das gleiche unveräußerliche Anrecht auf den gesamten Boden und auf die von der Gesamtheit beigestellten Produktionsmittel.

2. Frauen, Kinder, Greise und Arbeitsunfähige haben Anspruch auf auskömmlichen, der Höhe des allgemeinen Reichthums billig entsprechenden Unterhalt.

3. Niemand kann, sofern er nicht in die Rechtssphäre eines anderen greift, in der Bethätigung seines freien, individuellen Willens gehindert werden.

4. Die öffentlichen Angelegenheiten werden nach den Entschließungen aller mehr als zwanzigjährigen Bewohner Freilands ohne Unterschied des Geschlechts verwaltet, die sämtlich in allen das gemeine Wesen betreffenden Angelegenheiten das gleiche aktive und passive Stimm- und Wahlrecht besitzen.

5. Die beschließende sowohl als die ausübende Gewalt ist nach Geschäftszweigen getheilt, und zwar in der Weise, daß die Gesamtheit der Stimmberechtigten für die hauptsächlichen öffentlichen Geschäftszweige gesonderte Vertreter wählt, die gesondert ihre Beschlüsse fassen und das Gebahren der den fraglichen Geschäftszweigen vorstehenden Verwaltungsorgane überwachen.

Die Anschaulichkeit, mit welcher Hertzka in seiner zweiten Schrift die Vorgänge des wirklichen Lebens schildert, die sich seiner Ansicht nach auf diesem Grundgesetz aufbauen lassen müssen, hat etwas Einschmeichelndes; insbesondere bezeichnet er es als seine ausdrückliche Absicht, durch die Einwände des nach Freiland verschlagenen Professors der „bürgerlich-westeuropäischen“ Nationalökonomie, „Tenax“, absichtlich alle seine bis jetzt ihm bekannten Kritiker in einer Person vorführen und widerlegen zu wollen. Nachdem alles aufs genaueste geschildert ist, vom Stiefelputzen im Gasthof bis zu den vertraulichsten Vergnügungen der neuländischen Familien, von der Rentenversicherung bis zu den Gründungsvorgängen beim Inslebentreten neuer Erwerbsgesellschaften – erklärt Tenax, daß er mit der Vergangenheit nunmehr fertig sei; nach einer öffentlichen Verhandlung, bei der er eine nicht gerade hervorragende wissenschaftliche Rolle gespielt hat, ruft er aus: „Meine ganze Zukunft gehört der Verbreitung jener Ideen, die ich hier in mich aufgenommen!“ Spricht’s und lehrt von Stunde an nur noch „freiländische Nationalökonomie“.

Es ist eine Reihe von Angriffen, witzigen und unwitzigen, gegen das „Ostafrikanaan“ des „Karl Strahl“ und gegen seine glückliche Hauptstadt „Edenthal“ aufgetaucht; mit Unrecht würde man aber die Originalität des Verfassers bestreiten oder seine Begeisterung bezweifeln. Man darf im Gegentheil glauben, daß es ihm Ernst ist, wenn er am Schluß seiner ersten Schrift sagt: „Nicht die wesenlose Schöpfung einer ausschweifenden Phantasie ist dies Buch, sondern das Ergebniß ernsten, nüchternen Nachdenkens. Alles, was ich als thatsächlich geschehen erzähle, es könnte geschehen, wenn sich Menschen fänden, die, erfüllt gleich mir von der Unhaltbarkeit der bestehenden Zustände, sich zu dem Entschluß aufrafften, zu handeln, statt zu klagen; die Hochlande im äquatorialen Afrika entsprechen durchaus dem im Vorstehenden entworfenen Bilde. Wer dies bezweifelt, der kontrolliere meine Erzählung durch die Reiseberichte Speekes, Grants, Livingstones, Bakers, Stanleys, Emin Paschas, Thomsons, Johnsons, Fischers, kurz aller derer, welche jene paradiesischen Gegenden besucht haben. Um ‚Freiland‘, so wie ich es darstelle, zur Thatsache werden zu lassen, bedarf es in jeder Hinsicht bloß einer genügenden Anzahl thatkräftiger Menschen. Werden sich solche finden? Wird diesen Blättern die Kraft innewohnen, mir die Genossen und Helfer zuzuführen, die zur Durchführung des großen Werkes erforderlich sind?“

In der That: der Anfang zur Durchführung des Werkes ist längst gemacht. Dutzende von Lokalgesellschaften in allen Theilen der Erde haben sich im Lauf der letzten vier Jahre gebildet und besitzen in der Zeitschrift „Freiland“, die in Wien erscheint, ein „Organ der Freilandvereine“. Aus den paar tausend Anhängern ist eine internationale Gesellschaft gebildet worden,

die seit Frühjahr 1891 durch das „Freiländische Aktionskomitee“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 883. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_883.jpg&oldid=- (Version vom 23.5.2020)