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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

dem Sohn entgegengestreckt, Angst und Jammer sprachen aus dem Gesicht, über dessen Wangen vier straff geflochtene graue Zöpfe niederhingen auf die Brust; die weit offenen Augen waren mit Thränen gefüllt und die schwere Zunge lallte. In der Unglücksnacht, in welcher das Wasser Sigenots Vater verschlungen, hatte Mutter Mahtilt die Sprache verloren; nur Lachen und Weinen waren ihr noch geblieben – das Weinen für die Freude, das Lachen für Wunsch und Angst.

„Mutter?“ stammelte Sigenot. „Was hast? Was ist denn geschehen?“ Das Weib lallte und lachte.

Er schien sie zu verstehen und blickte um sich. „Das Rötli? Wo ist das Rötli?“

Mutter Mahtilt deutete mit den Armen, während ein Windstoß unter dröhnendem Donner das Haus umfuhr. Da erblaßte Sigenot. „Draußen? Auf dem Wasser?“ schrie er und stürzte zur Thüre. Auf der Schwelle blieb er stehen, kehrte zurück, faßte die Hände der Mutter und sagte: „Mußt keine Angst haben, Mutterli, ich bring’ Dir das Kind!“ Mutter Mahtilt klammerte die Finger um seine Hände, blickte zu ihm auf und nickte; ihre Hände zitterten, und glänzende Zähren rollten über ihre Wangen.

Sigenot lächelte und ging zur Thüre. Kaum aber war er hinausgetreten ins Freie, in den tobenden Sturm, da überfiel ihn zitternde Unruhe; mit zuckenden Händen griff er nach einem Ruder. „Wicho! Wicho!“ schrie er. Aber es kam nur die Magd gerannt.

„Der muß im Heimgart’ sein, ich weiß nicht, wo!“ stotterte sie.

Sigenot schwang das Ruder über die Schulter und rannte über den Hügel hinunter, dem Hagthor zu; hinter ihm her die Magd. Als sie die Lände erreichten, über welche jede anrauschende Welle einen schäumenden Wasserguß herausspültc, zuckte ein greller Blitz. In der brennenden Helle sah Sigenot den Einbaum am Ufer liegen. „Ach Du meine Not,“ stammelte er, „sie hat nur den leichten Gransen!“ Er warf das Ruder in den Einbaum und stemmte, auf die Knie gebückt, von Wasserschaum umflattert, die Schulter gegen das schwere Boot. Die Magd wollte ihm helfen, aber sie kam zu spät; ehe sie noch die Hände ausstreckte, schwankte der Nachen schon auf den Wellen, und Sigenot stand darin und zerrte das Ruder durch den Weidenring. Mit wuchtigen Schlägen trieb er den Einbaum, dessen Schnabel auf die ansteigenden Wellen klatschte. Blitz um Blitz erhellte die Finsternis, Sigenot spähte hinaus über den Seeweiher, doch er sah nur das Gewirbel des weißen Wassers.

„Rötli! Rötli!“ schrie er mit hallender Stimme; aber sein Ruf erstickte im Brausen des Sturmes, und keine Antwort erklang; nur droben in Wazemanns Haus heulten und kläfften die Hunde.

„Rötli! Rötli!“ schrie Sigenot immer wieder und holte mit dem Ruder aus, daß die Stange knirschte. Jeder neue Wellenschlag erschütterte den Einbaum und machte ihn steigen und sinken; aber das Boot hielt feste Fahrt. Nun fuhr es knirschend durch Geröhr, rauschte vorüber an der Insel und vor Sigenot öffnete sich der Weitsee. Brausen, Rauschen, Donner und Echo füllte den nachtschwarzen gewaltigen Felsenkessel.

„Rötli! Rötli!“

Da klang von der Falkenwand herüber ein schluchzender Schrei.

„Ich komm’ schon, Rötli!“ jauchzte Sigenot und warf sich mit dem ganzen Körper auf die Ruderstange. Jeder Schlag trieb den Einbaum über sprühende Wellenkämme, und immer näher rückte die schwarze Wand. Ein Blitz fuhr nieder über die Berge, und in dem Feuerschein, der über das kochende Wasser floß, sah Sigenot den Gransen an der senkrecht aus dem Wasser steigenden Felswand hängen und anschlagen wider das Gestein aber zwei Gestalten trug der Nachen, und vier Arme hingen angeklammert an das dürftige Gestrüpp, das in den Runsen der Felswand wurzelte. Ein heißer Schreck durchzuckte Sigenots Herz und über seine Lippen rang sich ein stammelnder Laut. Da lag schon wieder die Finsternis um ihn her. Aber der Einbaum schoß der Felswand zu, die Ruderstangc ächzte und der Schaum der gebrochenen Wellen, vom Sturm getrieben, übersprühte Schiff und Schiffer. Wieder flammte ein Blitz – dicht neben dem weißumbrandeten Gransen glitt der Einbaum vorüber – Sigenot ließ das Ruder sinken, griff zu mit beiden Armen, faßte mit eisernem Griff die Tochter Wazes um die Hüften und schwang sie herüber in das Boot. Recka taumelte, ihre Arme klammerten sich um den Hals des Fischers und schwer hing sie an seiner Brust; Sigenot hielt das Mädchen umschlungen, er fühlte ihren bebenden Körper, den Schlag ihres Herzens, den heißen Hauch ihres Mundes – und plötzlich ging es ihm wie strömende Glut durch Leib und Herz, und ein jähes Zittern rann ihm durch die Arme. Da klang durch das Rauschen und Stürmen in schreiender Angst Edelrots Stimme: „Ich sink’! Ich sink’!“

Sigenot erwachte. „Rötli!“ rief er mit ersticktem Laut und seine Arme ließen von Recka, welche wankend niederstürzte auf den Boden des Einbaums. „Rötli! Ich komm’ schon!“

„Sigenot!“ Hart neben dem Einbaum klang der gellende Ruf, nicht mehr an der Felswand, sondern zu Sigenots Füßen, zwischen den Wellen.

Mit heiserem Schrei warf sich der Fischer auf die Knie und griff in der Finsternis mit beiden Händen hinaus über den Einbaum; seine Finger stießen noch an den Rand des sinkenden Gransens. Da kreischte Recka: „Hilf mir, ich hab’ sie gehascht!“

„Rötli! Rötli!“ Sigenots Hände tauchten in eine steigende Welle, er fühlte einen schlagenden Arm und griff ihn. Im Nu stand er aufrecht im Boot, hob die Schwester mit zitternden Armen empor und ließ sie niedergleiten in Reckas Schoß. Er sprach kein Wort, nur ein Stöhnen rang sich aus seiner schwer atmenden Brust.

Krachend stieß der Spiegel des Schiffes an die Felswand, und eine Welle überschlug den Einbaum. Sigenot wankte – aber seine Hände hatten schon das Ruder gefaßt; er stieß sich von der Felswand ab, und mit weit ausholenden Schlägen trieb er das auf- und niederschwankende Boot durch Sturm und Wellen. Floß die Feuerhelle eines Blitzes über das Wasser, so sah er vor sich im Einbaum Wazemanns Tochter sitzen, mit blassem steinernen Gesicht, das die vom Sturme gelösten Haare umringelten gleich roten Flammen; und vor ihr lag Edelrot auf dem Boden des Einbaums, Reckas Hüfte umklammernd, das Gesicht in ihren Schoß gedrückt, mit ersticktem Schluchzen, umschwankt von dem Wasser, das die Wellen in den Kahn geworfen.

Im Röhricht, welches die Insel umzog, stockte der Einbaum; aber ein Stoß der Ruderstange befreite ihn wieder – und nun wies in der Finsternis die rotleuchtende Thür des Fischerhauses den Weg zur Lände. Die Magd am Ufer, da sie den Nachen klatschen hörte, stieß einen hellen Schrei aus und rannte dem Hause zu.

Knirschend fuhr der Einbaum in den Sand. Sigenot sprang an das Ufer; stammelnd beugte er sich über Edelrot, umschlang sie mit beiden Armen und hob die Schwester, deren Gewand von Nässe troff, empor an seine Brust. Wazes Tochter erhob sich und sprang aus dem Kahn. Sie stand, preßte die Hände auf den Busen und starrte hinaus über den tobenden See. Grell leuchtete ein Blitz.

„Recka!“ stotterte Sigenot. „Hast Schmerzen – ist Dir ’was geschehen?“

„Mir? Nein!“ klang ihre harte Stimme. „Aber meine Stößer hab’ ich verloren. Um die ist mir leider, als mir um mich gewesen wär’.“ Sie kehrte sich ab, und unter rollendem Donner schritt sie den im Sturmwind rauschenden Bäumen zu.

„Recka!“ rief ihr der Fischer nach. „Willst nicht warten, bis ich mit einer Fackel komm’?“

„Ich find’ meinen Weg allein!“

Enger klammerten sich Sigenots Arme um die zitternde Schwester, und raschen Ganges trug er sie in das Haus. „Mutterli!“ schluchzte Edelrot, als der Bruder sie in der Halle niedergleiten ließ; sie sank vor der Mutter auf die Knie und schmiegte sich an ihre Brust, tief atmend, als fühlte sie sich jetzt erst sicher und gerettet. Mahtilt umschlang ihr Kind, drückte die Wange an Rötlis Köpfchen und weinte in heißer Freude …

Sigenot starrte stumm die beiden an; fahle Blässe lag auf seinem Gesicht, und seine Augen brannten. Da faßte die Mutter seine Hand, drückte sie und lächelte zu ihm auf; er aber zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf. „Ich hab’ Dir das Kind nur heimgetragen … geholfen hat ihm Wazemanns Tochter!“

Er griff nach einer langen Kienfackel, welche in einer Ecke lehnte, steckte sie am Herdfeuer in Brand und verließ die Stube. Eilenden Ganges gewann er die Achenbrücke. Er mußte die Fackel weit von sich halten, damit ihm der wirbelnde Sturm nicht die lodernde Pechflamme ins Gesicht trieb. Als er den finsteren Wald betrat, sah er beim Schein der Fackel die Tochter Wazes zwischen den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_086.jpg&oldid=- (Version vom 14.5.2019)