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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

antwortet er auf eine Frage meines Begleiters, der ihn zu kennen scheint. „Das Elend, das traurigste Elend für die meisten – besonders für die Franzosen. Die Deutschen und die Russen finden noch eher Arbeit, aber uns – man könnte meinen, man habe sich gegen uns verschworen, uns nirgends ankommen zu lassen. Und so müssen wir Hungers sterben.“ Und indem er seine Rede mehr und mehr an mich richtete, fuhr er fort: „Sehen Sie, ich bin Schneider und verdiene zur Not, was ich zum Leben brauche – aber die andern! Man redet ja wohl von den gefüllten Kassen, von den Hilfsquellen der Partei! Ja, guten Morgen, Partei! Es giebt unter den Flüchtlingen kein Gemeinschaftsgefühl. Diese Spaltungen trennen die Parteimitglieder, selbst die, welche zu diesem Klub gehören, der doch angeblich nur Freunde beherbergt. Einer wird am andern zum Spion, und wenn die Polizei eine geschicktere Hand hätte, wahrhaftig, sie hätte mit Leichtigkeit verhindern können, was geschehen ist. Wir sollen von hier Geld nach Frankreich geschickt haben. Wir! Geld! Woher sollen wir es denn haben? Um die fünfzehn Franken zusammenzubringen, die der Druck eines Aufrufs kostet, müssen wir wochenlang überall herumbetteln. Zwanzig Genossen kann man den Geldbeutel umdrehen und findet noch kein Pfund Sterling drin!“

So redete sich der Mann immer tiefer in Eifer. Später habe ich erfahren. daß er Martial Bourdin hieß und kein anderer war als jener Bourdin, der im Park von Greenwich das Opfer seines eigenen Anschlags gegen das astronomische Observatorium wurde.

Unterdessen hatte sich der Saal mehr und mehr gefüllt. Leute jeden Alters, Greise, halbreife Burschen, würdig aussehende Männer und abgefeimte Galgengesichter, alles drängte sich durcheinander. In einem Winkel hatte ein sanft und gutmütig dreinschauender Jüngling ein kleines Kind auf den Knien sitzen; die Genossen hatten es adoptiert, nachdem seine Mutter gestorben war. Armes Würmchen! Welches Los harrt deiner, mit welch schrecklichen Lehren werden sie dein Köpfchen füllen, wenn es kaum zu begreifen anfängt!

Die Gespräche, erst auf kleine Gruppen beschränkt, werden lebhafter und allgemeiner. Eifrige Debatten entspinnen sich. Redner treten auf und folgen sich ohne Unterlaß; aber immer weniger vermögen sie den allgemeinen Lärm zu übertäuben, bald sprechen fünf, zehn zugleich und auch ihre Stimme erstickt in den rauhen Tönen der Revolutionslieder, die schließlich dem tollen Wirrwarr die Krone aufsetzen. Dazu der Qualm der Lampen und Pfeifen, der Geruch von verschüttetem Bier und Schnaps ....

„Kommen Sie, wir wollen gehen,“ mahnte mein Führer, und es bedurfte bei mir keiner weiteren Ueberredung mehr. Mit einiger Ellbogenarbeit gelang es uns, glücklich und wohlbehalten das Freie zu gewinnen.

Es war noch nicht Mitternacht, und da wir einmal auf der „Studienreise“ waren, so erbot sich mein Begleiter, mir noch einen andern „Klub“ zu zeigen, der seit einiger Zeit sich großen Zulaufs erfreue. Ich ging auf den Vorschlag ein, obwohl nach dem eben Erlebten ohne große Begeisterung. Nach einigen Irrfahrten durch die Gassen und Gäßchen der Millionenstadt hielten wir vor dem Hause Nr. 5 der Widfieldstraße. Den Eingang bildete ein großes zweiflügeliges Thor, das fest verschlossen war. Drei Schläge in bestimmt abgemessenen Pausen und die Flügel des Thors thaten sich zu einer schmalen Spalte auf, hinter der ein rotbärtiger Riese erschien. Wieder kostete es einige Verhandlungen, diesmal unter Begleitung eines Schillingstückes, und man ließ uns ein in einen großen düstern Hof, in welchem Wagen und Fahrzeuge aller Art umherstanden. Von beiden Seiten hörte man Pferde wiehern, und der entsprechende Geruch stieg energisch zur Nase. Aus einer breiten verglasten Oeffnung im Hintergrunde drang ein Lichtstrom heraus in das Dunkel des Hofs. Wir befanden uns vor dem Lokale des Klubs „Ecurie“, zu deutsch „Stall“.

Das Innere war denn auch danach! Als wir eintraten, vermochten wir erst rein nichts zu erkennen vor Qualm und Rauch. Ein durchdringender Bier- und Schnapsdunst quoll uns entgegen, und als wir uns ein wenig akklimatisiert hatten, war der erste Anblick, der sich uns bot, ein Paar abscheulicher alter Weiber, die wütend aufeinander losschimpften. Allmählich unterschieden wir noch ein paar Kartenspieler und ein – Billard, an dem eine Gruppe der abgerissensten Gesellen ihre Partie machte. Zahlreiche Deutsche, Russen, Spanier, Holländer, Franzosen und selbstverständlich auch Engländer saßen da oder schoben sich in dem engen Raume durcheinander, eine wahre internationale Lumpengesellschaft, halb betrunken, streitend, brüllend, kreischend – wahrhaftig, der „Stall“ führte seinen Namen mit Recht: es war ein Augiasstall, der einen tüchtigen Besen verdient hätte.

Ich hatte bald genug von diesem „Studienplatz“. Wir drückten uns rasch wieder hinaus aus der entsetzlichen Höhle; und mit wahrer Wonne sog ich draußen den dicken Nebel ein, der auf den Straßen Londons lag.

Wenige Tage darauf wurde der Autonomie-Klub geschlossen. Es geschah nicht eigentlich, wie fälschlich berichtet wurde, durch die Polizei, nur mittelbar hat diese ihre Hand im Spiele gehabt. Als durch die Bourdinsche Bombe im Park von Greenwich die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Londoner Anarchistenherd gelenkt wurde und ein Sturm der Entrüstung sich darüber erhob, daß diese gefährlichsten Feinde aller menschlichen Kultur dort so ungehindert ihr Wesen treiben und ihre Anschläge schmieden durften, glaubte das Ministerium, zum Teil wohl auch einem Druck von seiten der auswärtigen Regierungen gehorchend, wenigstens äußerlich etwas thun zu müssen, was wie ein Vorgehen gegen die Anarchisten aussah. Die Polizei drang am Abend nach jenem Vorfall plötzlich in den Autonomie-Klub ein und erklärte sämtliche Anwesende für verhaftet. Sie hielt dieselben auch wirklich mehrere Stunden lang in den Räumen des Klubs fest, veranstaltete eine sorgfältige Haussuchung, fragte die „Gefangenen“ nach Wohnung und Herkunft und – ließ sie wieder springen. War das alles auch nur ein auf den Eindruck nach außen berechnetes Scheinmanöver, so hatte es doch nebenbei die Wirkung, daß eine Reihe von Mitgliedern, die nicht bloß um ihrer anarchischen Gesinnung willen, sondern auch wegen gewöhnlicher Uebelthaten Grund hatten, der Polizei aus dem Wege zu gehen, den Staub Londons von ihren Füßen schüttelten. Zugleich machte sich in den Volksmassen eine heftige Erregung gegen den Autonomie-Klub geltend; den Bombenwerfern wurde selbst mit Bomben gedroht und einmal auch schon ein Versuch zur Erstürmung des Hauses in der Windmill-Street gemacht, so daß den übrigen Anarchisten der Boden entschieden zu heiß unter den Füßen wurde. Sie blieben plötzlich weg, und so wurde der Autonomie-Klub „geschlossen“.

Uebrigens hatte das Einschreiten der Polizei – oder wohl schon das Ereignis im Greenwichpark – noch eine andere Folge. Es brachte eine völlige Spaltung zwischen den Anarchisten hervor. Die Engländer, von denen immer nur eine ganz geringe Anzahl ihnen zugehörte, sagten sich mit zwei oder drei Ausnahmen von den „entschlosseneren“ Elementen los, die nunmehr in dem südlichen Londoner Vorstädtchen Kennington – nicht zu verwechseln mit dem vornehmen Kensington – ihre geheimen Zusammenkünfte halten. Unter ihnen spielt ein deutscher Schneider eine hervorragende Rolle. Die übrigen sind zumeist Franzosen, Italiener und Tschechen und ein wohlhabender Engländer liefert ihnen manche Mittel. Zu ihnen gehört auch Luise Michell, die in London ein – Mädchenpensionat errichtet hat. Sie sind die gefährlichste Gruppe. Und wie bislang auf dem europäischen Festland kaum ein Gewaltstreich ausgeführt wurde, der nicht von den „Autonomisten“ geplant und ins Werk gesetzt worden, so dürfte die „Förderung“ solcher „Unternehmungen“ jetzt wohl die Sache der allerdings wesentlich zusammengeschrumpften, aber vielleicht um so entschlosseneren Schar in Kennington werden.

Die Engländer blicken mit Stolz darauf zurück, daß ihr Vaterland seit langem die Zufluchtsstätte politischer Flüchtlinge aus allen möglichen Ländern und allen möglichen Schichten der Bevölkerung gewesen ist. Fürsten haben hier ein ebenso freies Asyl gefunden wie Revolutionäre. Der Ruhm soll England ungeschmälert bleiben. Aber dies Land der Freiheit kann doch nicht die Anarchisten, die Feinde aller Kultur, als eine politische Partei respektieren, kann doch nicht Leute unter den Schutz eines besonderen Asylrechts stellen, die selbst jedem Rechte Hohn sprechen! Eine schärfere Ueberwachung der Anarchisten ist das Allermindeste, was man von der englischen Regierung verlangen muß. Das dürfte vorläufig doch noch praktischer sein als etwa eine Unterstützung jener Bewegung, die jetzt in Frankreich so viel von sich reden macht und die darauf hinausgeht, „den Anarchisten Gelegenheit zu geben, ihre Ideen zu verwirklichen“, indem man sie allesamt – – nach irgend einer fernen Insel sich einschiffen ließe, wo sie dann nach ihren Idealen eine Gesellschaft ohne Gott, Herrscher und Gesetz begründen könnten. B. L.     


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_227.jpg&oldid=- (Version vom 2.7.2020)