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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

befangen, unterwegs kein Wort mit Ilse getauscht hatte, die Hausthür aufschloß, huschte ein dunkler Schatten an einem der erleuchteten Fenster entlang, und gleich darauf fühlte Ilse sich eng von zwei zitternden Armen umschlungen.

„Armin, Du? Wie Du mich erschreckt hast! Warum bist Du noch auf? Es – es – ist doch nichts vorgefallen?“

„Ach, vorgefallen – das gerade nicht, aber – aber – ich bin so froh, daß Du wieder da bist und Papa auch! Ich weiß gar nicht recht, was das ist, mir erscheint Mama so sonderbar –“

Mit einer hastigen Bewegung riß Ilse Pelzmantel und Tücher herunter und eilte Armin voraus ins Krankenzimmer, ohne zu bedenken, was die Mutter zu dem Aufputz, in welchem sie sich befand, sagen würde. Die Baronin blickte ihr aus fieberglänzenden Augen entgegen und schien sich über die Erscheinung des jungen Mädchens keineswegs zu wundern. Sie richtete sich lebhaft auf, was sie lange Zeit nicht mehr ohne Hilfe hatte thun können, und streckte ihrem Gatten, der dicht hinter Ilse eingetreten war, die Hand entgegen.

„Nur gut, daß Du kommst, Hans Gottfried! Ich hab’ mich sehr über Dich gewundert, Du bist doch sonst die Pünktlichkeit selbst, hast mich niemals warten lassen, und nun gar bei solch wichtiger Gelegenheit! Aber jetzt bist Du ja da, und auch schon im festlichen Anzug, da will ich nicht weiter schelten. Nur ich, ich bin noch nicht – oder doch?“ Ihr Blick fiel auf Ilse, sie nickte mit einem träumerischen Lächeln vor sich hin. „Ja, ja, ich bin immer gern in Weiß gegangen. Wann trug ich doch zuletzt dieses Kleid? Wann hab’ ich das Kleid doch zuletzt getragen?“ Ihre schmale heiße Hand betastete unsicher die goldenen Verschnürungen, die Ilses Gewand am Mieder und an den Aermeln zeigte. „Ich weiß es gar nicht wehr ... weißt Du es nicht, Hans Gottfried?“

„Liebe, liebe Elisabeth! Mein Herz!“ Die Stimme wollte ihm nicht recht gehorchen, er bedeckte ihre Hand mit stürmischen Küssen.

Ilse faßte die leichte Gestalt der Kranken in ihre Arme und legte sie sanft in die Kissen zurück, dann wandte sie sich an Lina. „Haben Sie der Frau Baronin nicht die beruhigenden Tropfen gegeben, die der Doktor das letzte Mal verschrieb?“

„Doch, auch schon zwei von den Pulvern. Die Frau Baronin begannen bald, nachdem die Herrschaften fort waren, unruhig zu werden; sie haben keine Minute geschlafen, und die Mittel haben gar keine Wirkung gehabt!“

„Hat sie viel nach Papa und nach mir gefragt?“

„Ein paarmal ja, aber schon in der nächsten Minute war das vergessen, und die Frau Baronin sprachen von anderen Dingen. Immer so, als wenn Frau Baronin sich trauen lassen müßten.“

Die Kranke fing das Wort auf. „Trauen! Natürlich! Lina ist wieder die einzige von allen, die daran denkt. Und es ist die höchste Zeit. Ich muß mir ja noch die Haare auflösen!“ Aber anstatt das eigene Haar anzurühren, begaun sie, mühsam die schwachen Hände hebend, Ilses Blumen abzunehmen und ihr die Schildpattnadeln aus dem Haar zu ziehen. In bebender Angst half diese nach, und bald sank der weiche goldene Schleier bis fast zu den Knien herab.

„Bin ich nun nicht schön, Hans Gottfried?“ Die Baronin sah mit leuchtenden Augen auf Ilse, es war, als blickte sie in einen lebendigen Spiegel.

„Sehr schön, meine Elisabeth, das Schönste auf der ganzen Welt!“

Die Baronin lächelte befriedigt. „Ja, das haben sie immer alle zu mir gesagt, meine Eltern, meine Freunde, alle! Wer ist das?“ fragte sie plötzlich neugierig und zeigte auf Armin, der neben Ilse stand.

„Armin, Dein Sohn – kennst Du ihn nicht?“

„Armin, mein Sohn?“ sie sprach es ungläubig nach. „Wie kann das doch kommen – ich hab’ ihn ja noch nie gesehen!“

„Mama!“ rief Armin und sank schluchzend neben dem Bett in die Knie.

„Ach, nun weint er! Warum denn? Hab’ ich ihm wehgethan? Ich wollte es nicht. Bitte, nein, weine nicht – Hans Gottfried hat nie erlaubt, daß ich eine Thräne weine!“

Ilse gab Lina einen Wink. „Noch einmal die Tropfen!“

Die Kranke wandte den Kopf. „Ich will nichts mehr einnehmen, nichts mehr, nichts mehr! Ich weiß recht gut, Ihr wollt mich betäuben, damit ich nicht mehr in die Kirche kann, aber ich thu’ es nicht, nein, nein!“ Sie wehrte mit der Hand den Löffel ab, den Ilse ihr reichte, und biß fest die Zähne aufeinander. „Nichts einnehmen! Nicht betäuben! Hans Gottfried, laß Du es nicht zu!“

„Gewiß nicht, mein Herz, sei ruhig, es soll Dir nichts geschehen!“

„Ja, so ist es gut! Keine Tropfen – keine Thränen! Den Kranz – aber es ist ein Kranz von Orangenblüten, kein Myrtenkranz – und wo ist der Schleier?“ Die Augen der sterbenden Frau weiteten sich, sahen mit einem Blick an den Anwesenden vorüber, weiter, immer weiter, wie in endlose Ferne.

Es trat eine bange Stille ein. Baron Doßberg schaute mit thränenden Augen auf seine Gattin. Gewiß, er hatte sie sanft durchs Leben getragen, sie hatte die Wahrheit gesprochen: nie hatte er erlaubt, daß sie eine Thräne weine.

„Warum kann ich denn nicht knien?“ fing die matte hohle Stimme von neuem an. „Wenn man den Segen empfangen will, muß man doch niederknien ... und ich stehe doch immer!“ Offenbar sah sie sich selbst in Ilse, die neben dem Kopfende des Bettes stand. Jetzt sank diese neben Armin in die Knie.

„Ja, so ist es recht ... aber noch immer keine Myrten, – Orangenblüten sind da! Nicht so laut die Orgel, nicht so laut – ich will doch die Stimme hören! Was sagt sie? Die Liebe Gottes – die Liebe –“ Das hastige Sprechen verlor sich in ein undeutliches Gemurmel, ein kurzes zuckendes Atmen ließ sich hören, setzte aus, begann von neuem – und plötzlich waren die Augen gebrochen. Eine fremde Starrheit kam in die trotz der Krankheit immer noch so lieblichen Züge, ein seufzender Hauch ging über die Lippen – das Leben war erloschen.




14.

Ohne von der im Verwalterhause eingetretenen Katastrophe eine Ahnung zu haben, schlummerten die Montroses bis in den hellen Tag hinein. Sie hatten viel nachzuholen – die letzten Gäste waren erst gegen vier Uhr morgens aufgebrochen, ein gutes Zeichen für die allgemeine Stimmung. Der Kotillon hatte sich, dank dem erfinderischen Geist der anordnenden Herren, die immer nene Touren ausführen ließen, unendlich lange hingezogen, ihm war eine muntere Damenpolka gefolgt, zuletzt, als alles „Weibliche“ sich entfernt hatte, hatten die Offiziere noch in Georges’ und Bothos Zimmern ein Spielchen gemacht: es war nicht viel dabei herausgekommen, man war eigentlich schon zu müde gewesen, nur Jagemann hatte wie gewöhnlich Pech gehabt, Mock ein unverdientes Glück.

Kurt von Oesterlitz, der Neuling, hatte sich in die Verhältnisse von St. und Umgegend schon hübsch eingelebt, er war rasch beliebt geworden bei den Kameraden, stand mit Zeno auf Du und Du, hatte sich in „Perle“ ausgezeichnet unterhalten und erklärte nur immer wieder, es sei eine Schande fürs ganze Regiment, daß man diese Isolde von Doßberg nicht für die Dauer des ganzen Festes habe halten können, denn die sei doch die Krone des Ganzen gewesen. Er und Zeno citierten begeistert ganze Stellen aus Wagners „Tristan und Isolde“, während sie in eifrigem Spiel Coeurdame mit einem Goldstück belegten.

Der Tag nach einem großen Fest pflegt nie besonders gemütlich zu verlaufen. Zwar die Dienerschaft auf „Perle“ war gut geschult und hatte das Einräumen und Ordnen bereits beendet, als die Bewohner des Schlosses zum Vorschein kamen, allein die blassen Gesichter und übernächtigen Mienen verhießen keine besonders genußreichen Stunden. Clémence hatte grauen Teint und trübe Augen, sah folglich sehr unvorteilhaft aus, der schöne Botho empfand einige Gewissensbisse wegen seines leichtsinnigen Spiels, Aerger über seinen Verlust und über seine namentlich in letzter Zeit rasend angewachsene Schuldenlast; er blinzelte verdrossen in den hellen Wintertag hinein, „gleich einer lichtscheuen Eule“, wie Georges sich ausdrückte. Dieser selbst hatte nur einen bittern Galgenhumor zur Verfügung, ihm war gestern einiges nicht so ganz geheuer erschienen und es war seine Absicht, das gelegentlich zur Sprache zu bringen, ein außerordentlich ungemütlicher Gedanke, da ihm jede sogenannte Familienscene ein Greuel war.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_255.jpg&oldid=- (Version vom 9.7.2020)