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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Blätter und Blüten.


Litauischer Bauer im Triebsand. (Zu dem Bilde S. 241.) Kennst Du, lieber Leser, jene weitgedehnte schmale Landzunge, welche im äußersten Norden des Deutschen Reiches die Scheide bildet zwischen dem Kurischen Haff und der benachbarten Ostsee? Abseits von der großen Verkehrsstraße gelegen, ist es der „Kurischen Nehrung“ noch nicht gelungen, die Beachtung weiterer Kreise zu gewinnen, und selbst in ihrer näheren Nachbarschaft giebt es nicht gar zu viele, welche dieses seltsame Gebilde der Natur aus eigener Anschauung kennen. In die Sahara versetzt könnte sich derjenige glauben, der diese etwa 100 Kilometer lange und bis 3 Kilometer breite Halbinsel zu durchwandern hat, denn Sand, nichts als lockerer Sand ist es, worauf sein Fuß tritt, Sand, der sich in der Mitte zu einem Bergzuge aufgetürmt hat, dessen wellenförmiger Rücken sich bis zu einer Höhe von etwa 60 bis 70 Meter emporhebt. Auf dieser Halbinsel nun, welche durch den Unverstand unserer Altvorderen aus einem Waldlande in eine Wüstenei verwandelt worden ist, giebt es gleich Oasen einige wenige Ortschaften, deren Bewohner sich meist vom Fischfange nähren und nebenher dem sandigen Boden mühsam einige Früchte abringen. Zwischen ihnen wird der Verkehr, der übrigens sehr geringfügig ist, vorzugsweise auf dem Wasserwege unterhalten, weil der Landweg beschwerlich und nicht ohne Gefahren ist. Wie schon erwähnt, tritt der Fuß hier überall auf Sand, welchen das Meer unausgesetzt ans Land spült und der, von der Sonne und der Luft schnell getrocknet, eine lockere Decke bildet, in welche der Wanderer bei jedem Schritte tief einsinkt. Wohl ihm, wenn er dabei immer festen Grund findet, denn gar zu leicht kann es geschehen, daß er eine jener Stellen betritt, wo der Sand einen tiefen Abgrund verhüllt und wo der Schreitende rettungslos versinkt, wenn ihm nicht schnelle Hilfe wird. Der lose Sand ist nämlich leicht genug, um von einem kräftigen Winde fortbewegt zu werden, ein Umstand, welcher ihn zu einer schweren Gefahr werden läßt; von diesem Triebsande, zu dem sich dann noch der leichtere, höher steigende Flugsand gesellt, sind auf der Nehrung schon mehrfach ganze Ansiedlungen vollständig begraben worden. Wenn nun gar ein Wirbelsturm über das Sandgefilde dahinbraust, dann geschieht es oft, daß er mit Riesenkraft einen tiefen Kessel in den Sandboden hineinbohrt, der jedem Verderben bringt, der in seinen Bannkreis tritt. Der wie ein Kreisel sich bewegende Triebsand umschlingt sein Opfer und zieht es immer tiefer hinab, um es schließlich ganz zu begraben, ohne daß eine Spur die Stätte anzeigt, wo das Unheil geschehen ist. Solch einem Triebsandkessel scheint der Litauer mit seinem Weibe auf unserem Bilde entgegenzufahren. Wohl hat er selbst die drohende Gefahr nicht zu erkennen vermocht, allein die Pferde haben das Unheimliche gewittert und durch ihr ängstliches Schnauben dem Wagenlenker zu erkennen gegeben, daß da vorn etwas nicht in Ordnung sei. Rasch reißt der vorsichtige, von einer bösen Ahnung ergriffene Nehrungsbewohner die stutzigen Tiere zurück. Ein Glück für ihn, wenn es noch rechtzeitig geschehen ist! Andernfalls würde er rettungslos mit seinem ganzen Gefährt versinken und sein Hilferuf müßte in der öden Einsamkeit ungehört verhallen.

Die Heimkehr des Fellahs.
Nach einem Relief von Bildhauer Chr. Paulus.

Kletterübungen der deutschen Infanterie. (Zu dem Bilde S. 253.) „Einigkeit macht stark“, das könnte man eigentlich als Motto über unser Bild von A. Wald schreiben. Denn was einem Einzelnen nach klaren physischen Gesetzen unmöglich wäre, nämlich eine weit über mannshohe glatte Wand ohne künstliche Hilfsmittel zu erklettern, das machen die geschickt vereinigten Kräfte vieler möglich. Ist es nur erst gelungen, durch Bildung eines „Turmes“ von zwei, drei menschlichen Stockwerken einen auf die Höhe der oberen Kante zu bringen, dann haben die übrigen leichtes Spiel: jener hilft von oben, andere schieben von unten, und so nimmt einer um den andern das unübersteiglich scheinende Hindernis. Des letzten freilich harrt wieder eine schwierige Aufgabe, denn ihm fehlt ja die hebende Kraft von unten. Aber auch für ihn wird Rat geschafft. Ein oder zwei Gewehre strecken sich ihm von oben entgegen, ein paar kräftige Züge – und oben sind sie mit ihrer lebendigen Last. Bei der deutschen Infanterie werden solche Uebungen, welche das höchste Maß von körperlicher Gewandtheit und erfinderischer Schlauheit in der Benutzung der Umstände erfordern, regelmäßig an eigens hierfür errichteten Gerüsten ausgeführt, selbst mit feldmarschmäßiger Packung. Nur läßt man dabei das gnte Gewehr M 88 natürlich zu Hause und bewaffnet die übenden Mannschaften dafür mit dem Bajonettiergewehr, dem die derben Stöße nichts schaden können, weil nichts daran zu verderben ist.

Lustiges Volk. (Zu dem Bilde S. 245.) Eine Truppe von fahrenden „Künstlern“ ist auf einen prunkvollen flandrischen Herrschaftssitz des 17. Jahrhunderts gekommen. Ueberall, wohin man blickt, die Anzeichen fürstlichen Reichtums: feine Fayence-Arbeiten, Gobelins, Teppiche, Waffen u. dgl. Selbst die Kette des Hofhundes ist ein kunstgewerbliches Prachtstück. Die „venetianische Tänzerin“, wie sie sich vielversprechend betitelt, übt in einer Halle des Erdgeschosses mit der sie begleitenden Musikbande die Programmnummern ein, mit denen sie am Abend die Schloßherrschaft und ihre Gäste in Entzücken zu setzen hofft; die schrille Musik von Cello und Mandoline, Trompete, Flöte und Trommel aber ist dem Hofhund durch Mark und Bein gegangen, so daß ihn der stämmige Diener kaum von gewaltthätiger Störung der sonderbaren Tanzübung zurückzuhalten vermag. Im Hintergrunde wird ein feister Rehbock ausgeweidet – ob aber der Braten für die Herrschaft oder für die Musikanten und die schöne pistolenbewaffnete Terpsichore bestimmt ist, das muß vorläufig im Dunkeln bleiben.

Die Heimkehr des Fellahs. Schräg fallen die Abendsonnenstrahlen über die Fluren, da bindet der Fellah den Esel von dem Pfluge los, hängt diesen in den hölzernen Haken an der Seite des Tieres und schwingt sich in den Sattel, wodurch das Zeichen zur Heimkehr vom Felde gegeben ist. Das Weib nimmt die in ihr Arbeitsgebiet gehörigen Gegenstände zusammen, den Sack mit dem Säugling und den Korb mit den noch übrigen Lebensmitteln, Brot, Oliven, Ziegenkäse und einigen irdenen Krügen mit Milch und Wasser. Der dreijährige Knabe wird herbeigerufen und der Zug setzt sich in Bewegung. Sobald die Sonne hinunter ist, tritt die Nacht ein, fast ohne den Uebergang der Dämmerung, darum ist Eile nötig: mit den letzten Sonnenstrahlen muß das Dorf erreicht sein, um keinen Preis möchte der Fellah nach eingetretener Nacht noch auf dem Felde sein, denn er fürchtet die Kobolde und Feldgeister, deren Macht mit dem Beginn der Dunkelheit zu wirken beginnt.

Das ist der Vorgang, der sich auf dem von uns abgebildeten Terracotta-Relief von Bildhauer Christoph Paulus abspielt. Dasselbe war im Verein mit 53 anderen vor einigen Jahren auf der Berliner Jubiläumskunstausstellung zu sehen und hat dem Künstler viel Anerkennung eingetragen vermöge der unverkennbaren Naturwahrheit, welche es auszeichnet. Paulus hat dieses Relief auch ganz vor dem lebenden Modell gefertigt. Die erforderlichen Personen fanden sich leicht unter der Landbevölkerung um Jerusalem, und für das Studium der Tiere, der Esel und Kamele besonders, hatte sich Paulus einen eigenen zusammenlegbaren Modellierstuhl anfertigen lassen, mit dem er hinauszog ins Freie oder in die „Chans“, die Einkehrhäuser mit ihren großen Stallungen und Höfen.

Christoph Paulus ist der Sohn eines jener Männer, die sich durch die Gründung der deutschen Kolonien in Palästina (vgl. Nr. 23 d. Jahrg. 1893) einen Namen gemacht haben, des kürzlich verstorbenen Christoph Paulus des Aelteren. Geboren am 11. April 1848 auf dem Salon bei Ludwigsburg, war er früh zum Bildhauer bestimmt worden und hatte an der Kgl. Kunstschule in Stuttgart, dann durch Hähnel in Dresden seine Ausbildung erhalten. 1875 kam er nach Palästina, wo er am Lyceum „Tempelstift“ zu Jaffa hauptsächlich als Zeichenlehrer wirkte, gleichzeitig aber eine künstlerische Thätigkeit entfaltete, deren Früchte in einer Reihe von Porträt-Denkmalen und in eben jener Sammlung von Terracotta-Reliefs vorliegen, aus der wir eine Probe herausgegriffen haben. 1889 kehrte Paulus nach Europa zurück und ließ sich in Stuttgart nieder, von wo er neuerdings seine Schritte nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika gelenkt hat.


Inhalt: Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (14. Fortsetzung). S. 241. – Litauischer Bauer im Triebsand. Bild. S. 241. – Lustiges Volk. Bild. S. 245. – Wiener Bettlerwesen. Von V. Chiavacci. S. 248. Mit Abbildungen S. 248, 249, 250, 251 und 252. – Die Perle. Roman von Marie Bernhard (14. Fortsetzung). S. 252. – Kletterübungen der deutschen Infanterie. Bild. S. 253. – Die Führerinnen der Frauenbewegung in Deutschland. Von R. Artaria. S. 256. Mit Bildnissen S. 257. – Blätter und Blüten: Litauischer Bauer im Triebsand. S. 260. (Zu dem Bilde S. 241.) – Kletterübungen der deutschen Infanterie. S. 260. (Zu dem Bilde S. 253.) – Lustiges Volk. S. 260. (Zu dem Bilde S. 245.) – Die Heimkehr des Fellahs. Mit Abbildung. S. 260.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_260.jpg&oldid=- (Version vom 25.6.2023)