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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Zutraulich faßten sie seine Hände, und ihre hellen Stimmlein klangen. „Gott grüß’ Dich auch!“

Da warf sich Eberwein auf die Knie, umschlang die Kinder und drückte ihre linden warmen Körperchen an seine Brust. „Die ersten, die ich halte! Die ersten, die mir freundlich sind!“ Zähren erstickten seine Worte.

Mit scheuen Augen beugte sich das Dirnlein zurück und rührte mit dem Händchen an Eberweins Wange. „Manne, was weinest denn? Thut Dich hungern oder dursten?“

Er mußte unter Thränen lächeln. „Ach ja, mein Dirnlein! Wie mich hungert und dürstet nach Eurer Liebe! Aber sag’, mein kleines Schätzel, wie heißt Du denn?“

„Moidi[1]!“ erwiderte das Dirnlein stolz. „Wie die liebe Gottesmutter!“

„Und Du, mein kleiner Mann?“

Das Bürschlein nahm das ganze Mäulchen voll. „Ich heiß’, wie Gott Vater heißt: Seppeli – wohl wohl!“

Eberwein hörte in tiefer Bewegung die christlichen Namen und hatte seine helle Freude an dem kleinen Kirchengelehrten, der in seiner fünfjährigen Weisheit Gott Vater selbst mit dem braven Zimmermann von Nazareth verwechselte. Da rief hinter dem Hag des nahen Gehöftes eine Frauenstimme die Namen der beiden Kinder, mit dem wirkungsvollen Zusatz: „Kommet zum Mus!“ und nun konnte Eberwein das Pärchen nicht mehr halten; er griff an den Gürtel und fand seine Tasche nicht … er wollte schenken, und seine Hände waren leer. „Ich will den Trost vergelten, den ich von Euch gewonnen!“ sagte er und küßte die Kinder auf die roten Wangen.

Dann stieg er die Halde hinunter, erquickt in seinem Herzen und wie neu belebt. Noch eh’ er das Thal erreichte, sperrte zwischen Bäumen und welkenden Büschen eine hohe Hecke seinen Weg. Das Glöcklein war verstummt, doch aus dem Kirchhof, von welchem die Hecke ihn schied, hörte er Stimmen. Durch eine Lücke sah er zur Rechten die Holzmauern des Kirchleins, welches von Grabhügeln umgeben war, und zur Linken ein niederes Balkenhaus, der Hütte eines Bauern gleichend, neben der Thür erhob sich eine alte Linde, welche mit ihren Aesten das Moosdach überspannte. Ihren mächtigen Stamm umzog eine Steinbank, auf welcher Hiltischalk saß, der Ramsauer Leutpriester, er hatte wohl achtzig Winter schon gesehen, denn schneeweiß fielen ihm die dünnen Haarsträhnen auf die Schultern. Eine lange schwarze Lodenkutte, an der Hüfte mit einem Stricklein festgebunden, umhüllte den hageren gebeugten Leib; der Bart war geschoren, und die weißen Stoppeln deckten das halbe Gesicht. Freundliche Augen lugten unter den weißen Dächlein der Brauen hervor, und herzlich klang seine sanfte langsame Stimme. „Jetzt gehet heim zu Weib und Kind,“ sagte er zu einigen Männern, welche vor ihm standen mit sorgenvollen Gesichtern, die Kappen in der Hand, „gehet heim und sorget Euch nimmer! Ich weiß Euch besseren Trost nicht als allweil den einen: bauet auf den Himmel, vertrauet auf Gott! So kann Euch kein Unheil ankommen und keine Not kann fallen über Euch!“

„Wohl wohl!“ sagte einer der Männer kleinlaut und strich die Hand über das struppige Haar. „Aber der alte Runot ist doch auch ein guter Christ, und der best’ schier von uns allen … und heut’ in der Nacht, derweil er fern gewesen ist, hat doch der Bidem[2] sein Haus geworfen!“

„Wohl wohl,“ fiel der Pfarrherr ein und hob die zitternde Hand, „das hast Du aber gut gesagt: derweil er fern gewesen ist! Freilich, freilich, das Häusl ist gefallen! Aber es ist ein altes Häusl gewesen … und schauet, Mannerleut’, was alt ist, geht seinem letzten Stündl zu, Mensch oder Haus, Vieh oder Baum, Berg oder Thal. Das Häusl ist alt gewesen und hat fallen müssen. Und jetzt schauet, Mannerleut’: was Gott gethan hat, weil der Runot sich allezeit gehalten hat als guter Christ – er hat das alte Häusl fallen lassen, derweil der Runot fern gewesen ist! Freilich, freilich, das Häusl liegt, aber der Runot steht gesund und lebig und kann seine Buben rufen von der Alben und kann ein neues Häusl bauen. Und wir all’, Mannerleut’, gelt, wir all’ helfen dazu um Gottes Lieb’?“

Da nickten die Männer.

„Ja, ja, ich sag’s halt alleweil: nur auf den Himmel bauen, nur auf den lieben Gott vertrauen! Haltet nur Ihr fest … der liebe Gott laßt nicht aus! Drum gehet jetzt nur heim, Mannerleut’, und sorget Euch nimmer! Sie soll nur bidmen, die Erd’, sie soll nur bidmen! Ich weiß schon einen, der fest halt’t! Ich hab’ schon gerufen zu ihm aus tiefstem Herzen … und das hat noch alleweil geholfen! Wohl wohl, da hab’ ich gar keine Sorg’!“ Er faltete die Hände im Schoß und suchte mit langsamen Augen den Himmel. „Eine einzige Sorg’ noch hab’ ich gehabt in meinem Leben, und die hat mein guter Herr jetzt auch von mir genommen.“

Fragend blickten ihn die Männer an, und einer sagte: „Eine Sorg’? Was wär’ denn das für eine?“

„Schauet mich doch an, Mannerleut’! Bin ich nicht alt, wie dem Runot sein Häusl gewesen ist? Und was alt ist, geht seinem jüngsten Stündl zu. Aber wenn ich einmal nimmer bin, wer wird denn sein an meiner Stell’, wer wird Euch denn halten beim Guten und Rechten? Wer wird denn rufen für Euch in Not und Fahr? So hab’ ich alleweil denken müssen in Tag und Nacht. Aber derzeit ich gehört hab’ gestern, daß die frommen Brüder gekommen sind ins Gademer Land, derzeit ist auch die letzte Sorg’ von mir gefallen!“

Eine Bewegung der Unruh’ ging über die Männer, und sie blickten einander an mit stumm redenden Augen.

„So eine Freud’! Was saget Ihr, Mannerleut’ … so eine Freud’ hat mein guter Herr mich noch genießen lassen auf meinen Abend! Ueber die vierzig Jahr’ lang hab’ ich keinen mehr gesehen, der das heilige Häs getragen hat. Vierzig Jahr’, Mannerleut’! Aber heut’ noch muß ich hinaus, heut’ noch! Freilich, der Weg ist schiech und weit für meine müden Füß’ …“

„Ich will ihn Dir sparen, mein guter Bruder!“ klang die bewegte Stimme Eberweins; er hatte die Hecke geteilt und war über den brüchigen Erdwall in den Kirchhof niedergestiegen. Scheu traten die Männer auseinander, und der greise Pfarrherr starrte auf Eberwein wie auf ein frohes Wunder. Stammelnd richtete er sich auf, und wie ein Vater, der den ersehnten Sohn begrüßt, eilte er mit offenen Armen auf Eberwein zu und warf sich an seine Brust. „Sei gegrüßt, sei gegrüßt, Du mein lieber Bruder, tausend und tausendmal!“ Und als wäre für ihn die Freude zu groß, um sie allein zu tragen, so rief er: „Mannerleut’, so kommet doch her …“ Betroffen verstummte er und riß die Augen auf – die Männer waren verschwunden. „Schau’, jetzt sind sie heimgegangen, jetzt, derweil sie doch hätten bleiben sollen! Freilich, freilich, ich hab’ ja gesagt zu ihnen: gehet heim!“ Und wieder schlang er die Arme um Eberwein. „Gelt, mein lieber Bruder, gelt, jetzt weilest Du ein lützel bei mir und thust Dich setzen an meinen Tisch … und … und …“ Er riß sich los und humpelte in geschäftiger Eile, mit fuchtelnden Händen dem Hause zu. In der Thür verschwand er, und seine zitternde Stimme klang: „Hilti, Hilti! Jetzt thu’ Dich aber tummeln, jetzt schaff’ nur, schaff’ … wir haben einen Gast!“

Mit glücklichem Lächeln hatte Eberwein dem Greise nachgeblickt. Tief atmend hob er die Augen zum Himmel: „Ja, Herr, hier wohnest Du!“

*  *  *

Seit einer Stunde saß Eberwein mit Hiltischalk auf der Steinbank unter der Linde. Kopfschüttelnd hörte der Greis, was ihm Eberwein von seinen Erlebnissen am Morgen erzählte.

„Die Gademer sind rauhe Leut’,“ sagte der Alte, „und der Unglauben hauset noch in ihrem Herzen wie die Mäus’ in der leeren Stub’. Wie ich jung gewesen bin, da war’s noch ein lützel besser, da bin ich all’ Woch’ ein paarmal hinaus zu ihnen. Aber meine alten Füß’ vermögen den Weg nimmer, und zu mir kommen sie halt nicht … freilich, der Weg ist weit, und sie haben viel zu schaffen! Doch das muß ich sagen: geschlossene Thor’ hab’ ich bei ihnen nie gefunden. Da muß ’was dahinterstecken, mein’ ich, da muß was dahinterstecken!“

„Meinst Du nicht, es könnte die böse Nacht die Leute so sehr geängstet haben, daß sie in blinder Furcht ihr Haus verschließen – vor mir, wie vor jedem andern?“

Der Greis schüttelte den Kopf. „In der Angst, Bruder, schreien die Leut’, und jede Hand sucht einen Halt und Stecken – die Not macht alle Thüren auf, nicht zu! Glaub’ mir, eh’ der Tag noch gekommen ist, haben die meisten den Nachtschrecken schon halb wieder vergessen gehabt. Wenn es anders wär’, wenn sie nicht ein so kurzes Gemerk hätten, sie könnten ja nimmer leben! Schau’ die Berg’ an: da steckt in jedem Steinl ein Tod; und eine Not in jedem Wässerlein. Da muß man schnell vergessen

  1. Marie.
  2. Das Erdbeben.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_266.jpg&oldid=- (Version vom 14.8.2023)