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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Muß das wahr sein, Onkel Erich?“

„Ich hab’s auch gelesen, vor kaum ’ner halben Stunde, ich – wahr wird’s schon sein – Matrose auf der ‚Nixe‘, Augenzeuge – und diese ganze Ewigkeit keine Nachricht von dem Schiff! Ich wollt’ es Dir bloß nicht sagen, mir war längst nicht wohl dabei. Mädel, sieh mich nicht so an, das ist nicht zum aushalten – schrei’ los in drei Teufelsnamen! Wein’ Dich aus!“

Aber Ilse schrie nicht und weinte sich auch nicht aus. „Das ist ganz unmöglich,“ fragte sie leise und eindringlich, „daß er sich geirrt hat, der Augenzeuge? Er ist selbst in Todesnot und Gefahr gewesen .... kann er sich nicht geirrt haben?“

Der alte Leupold schüttelte den Kopf. „Sieh ’mal, Kind, was ’n richtiger Kapitän ist, der läßt sein Fahrzeug nicht im Stich. Geht das Schiff zu Grund, geht er mit zu Grund. Wenn die ‚Nixe‘ untergegangen ist mit Mann und Maus, dann war er drauf, da setz’ ich meinen Kopf zum Pfand!“

Ilse preßte die Handflächen aneinander und sah zu Boden. Plötzlich hob sie den Kopf. „Kannst Du mir Geld geben, Onkel Erich? Etwas Geld?“

„Was willst Du haben, Kind?“ Er sah sie ängstlich an, er fürchtete, sie könnte krank sein.

„Etwas Geld möchte ich! Papa könnte es mir vielleicht auch geben, aber ich weiß es nicht genau. Und ich möchte –“

„Was Du möchtest, sollst Du Dir kaufen – ich geb’ Dir’s natürlich, ich geb’ Dir’s! Aber vielleicht sagst Du mir ...“

„Ich will nichts kaufen. Nach G. möcht’ ich fahren und diesen – diesen Rolf Görnemann sehen und sprechen. Sag’ nichts dagegen!“ rief sie flehend, als Leupold Miene machte, zu sprechen. „Es ist das einzige, um was ich Dich bitte, das einzige und das letzte! Der Bericht kann noch eine Woche, er kann auch noch länger auf sich warten lassen .... ich hab’ das Gefühl, ich muß sterben, wenn ich so lange warten soll – Onkel, Onkel Erich –“

„Zum Donnerwetter, Mädel, laß’ mich doch reden, laß’ mich doch zu Wort kommen! Ja und zehnmal ja, Du sollst das Geld haben! Und ich fahr’ selbst mit Dir hinüber nach G., ich will diesen verteufelten Rolf Görnemann auch sprechen, will auch hören, wie mein Junge, unser Albrecht – wir fahren noch heut’! In zwei, drei Stunden denk’ ich, haben wir den nächsten Zug, morgen früh können wir an Ort und Stelle sein. Jan! Jan Grenboom! Wo steckt das alte Walroß wieder? Das Kursbuch bring’ her, das Kursbuch!“

*  *   *

Durch die kurze schwüle Sommernacht sauste der Zug, der den alten Leupold und seine Nichte nach G. bringen sollte. Ilse hatte nicht in den Schlafwagen gehen wollen sondern hatte leise gebeten: „Laß’ mich doch bei Dir bleiben, Onkel Erich!“ und sie war geblieben. Sie fiel ihm nicht zur Last mit Jammern und Thränen, sie saß da, still in ihre Ecke gedrückt, dann und wann, sobald sie sah, daß der Onkel sorgenvoll den Blick auf sie richtete, nickte sie ihm beruhigend zu. Das Fenster war niedergelassen, die weiche Nachtluft strömte herein. Der dunkle Himmel funkelte goldübersät von zahllosen Sternen; spät ging der Mond auf, sein bleiches Licht tauchte die schlafende Landschaft in Silberfluten. Klirrend, rasselnd flog der Zug weiter und weiter. Dann begannen die Sterne blaß zu werden, kühle Morgenluft wehte, ein fahler Dämmerschein spann sich um Bäume und Büsche, der Wald, den der Zug durchkeuchte, erschauerte im frischen Wind – die Sonne ging auf.

Um sieben Uhr früh fuhr der Zug in G. ein. Eine geschäftige menschenwimmelnde Fabrikstadt! Die Maschinen waren schon alle in Thätigkeit, die hohen Schlote spien mächtige Dampfwolken aus, die den blauen Sommerhimmel verdüsterten, in den Straßen ein Lärm, der Ilses verstörten Nerven förmlich weh that.

Die beiden fuhren zunächst in einen Gasthof, um ein paar Stunden zu ruhen. Ermüdet warf sich Ilse aufs Sofa des ihr angewiesenen Zimmers und schloß die Augen. Aber vor ihr jagte eine wirre tolle Flucht von Bildern vorüber, daß sie schreckhaft die Augen wieder öffnete und lieber die Wände des Zimmers ansah. Ein Seestück hing da unter den Bildern, irgend ein Hafen, in den ein Schiff mit wohlgeblähten Segeln einlief. Ilse sah das Bild unverwandt an. Dies Schiff kommt in Sicherheit, die paar Brandungswellen sind bald überwunden, dann liegt es vor Anker, ist geborgen samt allen, die darauf sind. Andere Schiffe haben es so gut nicht, die verschlingt das Meer .... es ging wie ein Riß durch ihr Herz. Sie zerrte ihre Uhr hervor .... konnten sie denn noch nicht zu Rolf Görnemann? Kaum Acht – noch volle drei Stunden! Denn der junge Mann war noch Rekonvaleszent, hatte Onkel Leupold geltend gemacht, man würde vor elf Uhr Besuch überhaupt nicht zu ihm lassen.

Eine Zeitung lag auf dem Tisch. Ilse griff mit bebenden Händen danach. Stand nichts von dem Schiff drin, von der „Nixe“ und von Rolf Görnemann? Ihre Augen flogen angstvoll von Spalte zu Spalte – Politik, Stadtneuigkeiten, Anzeigen, Anpreisungen seitenlang .... sonst nichts! Sie steckte sich ans Fenster, sah auf die Straße hinaus, verfolgte die rasselnden Milchwagen, die hin und hereilenden Dienstboten, die Kinder, die zur Schule gingen. Halb neun Uhr! Wie die Zeit schlich!

Und so zwischen rnhelosem Umhergehen im Zimmer, dem Versuche, zu schlafen oder zu lesen, verbrachte sie den Vormittag. Langsam kroch der Zeiger auf der Uhr weiter, und endlich, endlich war’s Elf. Mit dem Glockenschlag öffnete Erich Leupold die Thür, schaute stumm seine Nichte an, schüttelte mißbilligend den Kopf, sagte aber nichts und gab ihr dann den Arm, um sie die Treppe hinunterzuführen. Vor der Thür unten hielt ein Wagen, sie stiegen ein und fuhren durch die laute Fabrikstadt; das Haus, in dem Rolf Görnemann wohnte, hatte der Kapitän im Adreßbuch gefunden.

Es war ein stattliches Gebäude, vor dem sie hielten. Ilse sprang aus dem Wagen und eilte so rasch die lange halbdunkle Treppe empor, daß Leupold kaum zu folgen vermochte. Oben fragten sie ein Dienstmädchen nach Herrn Rolf Görnemann.

„Ich weiß nicht, ob er zu sprechen ist, ich muß zuerst Madame fragen. Bitte, einzutreten!“

Ein großes, mit hübschem Geschmack ausgestattetes Zimmer, aber unfreundlich, sonnenlos. Eine kleine alte Dame mit einem sanften bekümmerten Gesicht trat leise durch eine Tapetenthür ein.

„Sie wünschen meinen Sohn zu sprechen – darf ich fragen, zu welchem Zweck? Er ist noch leidend und soll geschont werden.“

„Ich bin Kapitän Leupold aus St., dies ist meine Nichte. Ich bin der Vormund des Kapitän Kamphausen, der mit der ‚Nixe‘ untergegangen sein soll. Wir lasen gestern den Bericht Ihres Sohnes und sind persönlich von St. herübergekommen, um Ihren Sohn selbst zu sprechen, aus seinem Munde eine Schilderung des Schiffbruchs zu hören.“

Die alte Dame wiegte zweifelnd den Kopf. „Das wird ihn sehr aufregen, und Aufregung thut ihm gar nicht gut, sagt der Arzt, der noch fast täglich kommt. Es geht meinem Sohn keineswegs nach Wunsch, sein Körper ist durch die lange Krankheit noch sehr geschwächt. Wir wollten auch gar nicht, daß die Notiz schon jetzt in die Zeitung komme, aber er ließ sich ja nicht halten, und immer widersprechen mag man auch nicht.“

Der alte Leupold hatte während dieser Rede, die ihm viel zu lange dauerte, taktmäßig mit seiner Stiefelspitze auf den Fußboden geklopft – jetzt sah er die alte Dame mit seinen scharfen Augen durchdringend an. „Es liegt uns sehr viel daran, Madame, Ihren Sohn selbst zu sprechen, wir sind eigens deshalb hierhergekommen!“

„O Gott, ja, mein Herr – gewiß – solch eine weite Reise – ich glaube schon gern, daß Ihnen viel daran liegt. Und die junge Dame – ach lieber Gott, ich ahne schon! Rolf ist aber eben erst aufgestanden, und dies würde ihn wirklich sehr aufregen, er hat Herrn Kapitän Kamphausen so außerordentlich verehrt und geliebt ... ich werde meinen Sohn holen!“ Die letzte überraschende Wendung war durch einen flehentlichen Blick aus Ilses Augen hervorgerufen worden. Die alte Frau fühlte all ihre mütterlichen Bedenken um den Sohn schwinden angesichts dieses jungen Wesens, in das sie sich auf den ersten Blick verliebt hatte. Sie konnte es sich so leicht zusammenreimen – das arme Geschöpf war natürlich des ertrunkenen Kapitäns Braut. Wie traurig! Die Augen wurden ihr feucht, sie streichelte mit sanfter Hand das liebliche Gesicht, und als Ilse sich über diese Hand neigte und sie küßte, da war Frau Görnemann vollends überwunden und ging nach einem beruhigenden Kopfnicken zur Thür hinaus.

„So sind diese Weibsbilder!“ murmelte Erich Leupold vor sich hin. „Unsereiner redet und thut das Menschenmögliche, und ’s ist alles umsonst! Wenn aber eine ihresgleichen kommt und nur ’n Paar Augen macht – da, hast du nicht gesehen, sind sie der reine Zucker. Na, setz’ Dich hin, Mädel – ich setz’ mich auch!“

Eine Pause von einigen Minuten, während deren Ilses Herzschlag

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 303. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_303.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2022)