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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Eberwein schrieb die Botschaft an den Bayernherzog, welche der Jungsenn’ tragen sollte. Doch häufig stockte ihm die gleitende Feder. Wie hätte seine Hand die drückende Schwere nicht fühlen sollen, die auf seinem Herzen lag, doppelt drückend, da ihm der Trost versagt war, seine Sorge auszusprechen. Wenn er die Brüder nicht entmutigen wollte, mußte er verschweigen, was ihm in Wazemanns Haus widerfahren. Ohne zu wissen, wie auf dem Totenmann das Thing gesprochen, ahnte er, daß nur die Furcht vor Waze alle Thore vor ihm schloß und alle Ohren taub machte für den Hall der Glocke. Böse Tage sah er kommen für seine junge Klause – und unter dem Druck dieser Sorge, bangend und schwankend, hatte er sich entschlossen, die Hilfe seines herzoglichen Freundes anzurufen. Er schrieb – und zögerte nach jedem Wort. Denn jeder Laut seiner Klage erschien ihm wie ein Zweifel an der Gerechtigkeit des Himmels und an Gottes Macht. „Unrecht thust Du, jage den Zweifel und das Bangen aus Deinem Herzen, halte fest an Gott und an Dir selbst!“ so schrie eine Stimme in seiner gemarterten Seele – und dennoch mußte er schreiben. Er sah die Hütten mit den geschlossenen Thoren, hörte Seufzer aus jedem Hag, laute Klage von allen Lippen – und eine andere Stimme in seinem Innern rief: „Nicht mir die Hilfe, nur diesen Armen und Gedrückten!“ Er schrieb und schrieb . . . und zögerte wieder. Zu all dieser Sorge redete noch eine andere. Das stille Pfarrhaus in der Ramsau stieg vor seinen Blicken auf – er hatte das Wort nicht lösen können, das er gegeben, und er wußte: Waldram hatte, als die Brüder nach dem Vermißten suchten, die Richtung gegen die Ramsau genommen! Eine quälende Ahnung beschlich ihn . . . wäre er ledig gewesen der Pflicht, die ihn festhielt in der Klause, er hätte inmitten der finsteren Nacht den Stab gefaßt und wäre ausgezogen, um die Wunde zu schließen, die er wider Willen einem frommen gottesfreudigen Glück geschlagen. Hier hielt ihn eine Pflicht . . . dort zog ihn eine andere! Welche mußte ihm heiliger sein? Er wollte aufspringen und saß doch wie gelähmt; es rieselte ihm heiß und kalt durch alle Glieder; ihm war, als stiegen aus seinem Herzen die quälenden Bilder heraus an die Luft: nebelhaft verschwommen standen Hiltischalk und Hiltidiu vor ihm, mit verschlungenen Händen, mit stummen Lippen und redenden Augen. Er streckte die Arme nach ihnen; da versank ihr Bild in grauer Nacht. Doch ein anderes stieg vor ihm auf, in weißem Mantel und mit wehendem Rothaar – und ob er auch die Hände vor die Augen schlug – er konnte dieses Bild nicht scheuchen.

Erschrocken richtete sich Huze vom Lager auf. „Guter Herre, was ist Dir denn?“ Eberwein ließ Pergament und Schreibrohr fallen, eilte auf den Knaben zu und umschlang ihn mit beiden Armen.

Bruder Wampo trat in die Zelle. „Herr, ein Bursch’ ist draußen, den der Fischer geschickt hat.“

„Laß ihn warten beim Feuer!“ Aufatmend strich Eberwein mit der Hand über das struppige Haar des Knaben. „Du solltest schlafen, Huze!“

„Weißt, ich hab’ Dich halt so viel gern angeschaut. Jetzt mach’ ich aber gleich die Augen zu, wohl wohl!“ Der Bub’ streckte sich und schloß die Lider. Sorglich hüllte ihn Eberwein in die warme Kotze; dann nahm er das Pergament wieder auf und begann zu schreiben.

In der Herdstube saß der Jungsenn’ neben dem Feuer; er hörte nicht, was Bruder Wampo leise jammerte und schwatzte – seine Gedanken weilten im Fischerhaus, an der trauten Stätte, die er so bald nicht wieder sehen sollte. Dort saßen sie wohl alle jetzt beim Herdschein um den steinernen Tisch, mit ernsten Reden und freundlichem Zutrunk. So meinte der junge Senn’; doch die Wirklichkeit zeigte ein anderes Bild. Wohl erfüllte die flackernde Herdflamme die Halle mit ihrem zuckenden Licht und ernste Worte wurden gesprochen; aber niemand dachte des abendlicheu Umtrunks. Wicho, Hilmtrud und Kaganhart standen vor dem Steintisch und beludeu zwei Kraxen mit Kleidungsstücken, mit Gerät und Zehrung. Eigel stand bei der offenen Thür und lauschte hinaus in die Nacht, während der Richtmann auf dem Herdrand saß und wortlos immer wieder mit schwerer Hand das Haar in die Stirne strich. Mutter Mahtilt saß wie versteinert in ihrem Lehnstuhl, die Hände im Schoß, schimmernde Zähren auf ihren bleichen Wangen; mit Schmerz und Sorge hingen ihre Augen an Rötli, welche schluchzend ihren Buben umfangen hielt. Sigenot legte die Hand auf die Schulter des Mädchens. „Hör’ mich an, Schwester! Schau’, mit Weinen ist nichts gethan! Jetzt mußt Du reden. Der arme Bub’ steht unter Blutschuld aus Lieb’ zu Dir. Jetzt sag’ es frei heraus: soll er ziehen allein . . . oder willst stehen bei ihm und aushalten an seiner Seit’ in Not und Gefahr?“

„Alleweil’, alleweil’! Und nimmer lassen von ihm!“ Enger noch klammerten sich Rötlis Arme um den Hals Ruedliebs.

„So geh’, Bub’“ – Sigenots Stimme schwankte – „bitt’ die Mutter um ihr Kind!“

Der Richtmann erhob sich, und während die anderen herbeitraten, fielen Ruedlieb und Rötli vor Mutter Mahtilt nieder. Lallend umschlang sie die Kinder, drückte sie an ihre Brust und neigte das Gesicht auf ihre Häupter; nach einer stummen Weile richtete sie sich auf, streifte einen silbernen Reif von ihrem Finger und reichte ihn Ruedlieb. Der Richtmann zog das Messer und gab es in die Hand des Sohnes. Auf die blanke Klinge legte Ruedlieb den Reif und bot ihn seiner Braut, während Thränen seine Stimme fast erstickten.

„So nimm von meiner Lieb’ und Treu’ den Reif als Pfand;
Den sollft Du tragen an Deiner lieben Hand.
Fest und ohne End’, wie der Reif gewunden,
Ist Treu’ an Treu’ in guter Eh’ gebunden.
Fest muß sie halten in Glück und Freuden,
Hundertmal fester noch in Not und Leiden.
Des müssen wir gedenken in aller Zeit:
Treu’ haben wir gelobt über scharfer Schneid’!“

Während Ruedlieb sprach, hob Mutter Mahtilt eine Staude aus dem Herdwinkel, streifte das dürre Laub ins Feuer, brach zwei Stäbe von der Gerte und warf sie auf die Steine; Seite an Seite kamen sie zu liegen, nach dem Herd gerichtet. Ein freudiges Lächeln glitt über die thränenfeuchten Lippen der stummen Mutter . . . freundlich hatten die Lose für ihres Kindes Glück gesprochen. Sigenot hob die Schwester von der Erde. „Schwesterliebl Deine Mutter hat nimmer Sprach’, Dein Vater weilet, ich weiß nicht, wo. So muß Dir der Bruder das letzte Heimwort sagen. Bist eine brave Tochter und Magd gewesen . . . sei kein schlechtes Weib! So zieh’ halt fort vom Mutterherd . . .“ die Stimme versagte ihm, und unter gepreßtem Schluchzen hing die Schwester an seinem Hals. Es währte lange, bis Sigenot wieder sprechen konnte. Zärtlich streichelte er das zuckende Gesicht des Mädchens und flüsterte: „Ich muß Dir eine trübe Hochzeit rüsten, gelt? Kann Dir kein Veiglein ins Haar legen, Blutblumen müssen Dein Kränzl sein; kann Dir die Kunkel nicht wickeln mit rotem Band. Hast keinen lustigen Brautlauf in lichter Sonn’, über Halden und Blumenklee . . . Dein Brautlauf geht in schiecher Nacht über Blut und Not, über Stein’ und tiefe Gründ’. Aber schau’, rechte Lieb’ hat einen lichten Schein in aller Nacht, und feste Treu’ macht alle Weg’ und Gruben eben. Jetzt thu’ nimmer weinen, Schätzel! Wir müssen ein End’ machen. So komm halt her, Bub’, und nimm Dein Bräutlein! Viel nimmst uns weg, aber halt’ mir nur die Schwester gut, nachher ist alles recht. Und eins versprich mir! Kommt wieder sonnscheinige Zeit, daß Ihr heimkehren dürft und hausen an gutem Herd – versprich mir’s, Bub’: so geh’ in der ersten Stund’ mit Deinem Weib hinaus zum Lok’stein, daß der gute Herr Eure Händ’ ineinanderlegt.“

„Wohl wohl!“ Mehr brachte Ruedlieb nicht über die Lippen.

„So, und jetzt gehet miteinander! Einer, der starke Arm’ hat, wird schauen auf Euch!“

Unter heißen Thränen warf sich Rötli zum Abschied an der Mutter Hals. Der Richtmann legte die Hände auf die Schultern seines Buben, sah ihm in die Augen und rüttelte ihn, sprechen konnte er nicht. Dann kamen die anderen der Reihe nach und drückten Ruedliebs Hand. Sigenot mußte die Schwester aus den Armen der Mutter lösen und führte die Wankende zur Thüre. „Wicho! Schwing’ der Haustochter den Herdbrand.“

Mit feierlichem Ernst zog der Knecht ein flackerndes Scheit aus dem Feuer und trug es vor der scheidenden Braut hinaus in die finstere Nacht. Prasselnd loderte die Flamme im kalt ziehenden Wind. Dreimal umschritt der Knecht die Braut, den Brand über ihrem Haupte schwingend, dann warf er das brennende Scheit auf ihren Weg. Edelrot faßte Ruedliebs Hand und stieß den Brand mit dem Fuß beiseite; sie war gelöst vom elterlichen Herd. Sigenot brachte ihnen die Grießbeile, welche sie nötig hatten auf ihrem Weg, und öffnete vor ihnen das Hagthor. Der Richtmann und Wicho folgten mit den beladenen Kraxen.

„Gieb mir Dein Messer und nimm das meine,“ sagte der Richtmann zum Fischer, „zeig’ es meinen Leuten, und sie hören auf Dein Wort!“ Sie tauschten die Messer.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_375.jpg&oldid=- (Version vom 28.12.2020)