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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Lippen den Mund geschlossen. Dieser stille Trost hatte so lange Dauer, daß der Brei in der Pfanne in verdächtiges Brodeln geriet. Erschrocken löste Rötli sich aus den Armen, die sie umschlungen hielten, und stammelte: „So, schön, jetzt hätt’ ich schier noch unser Mahl verbrennen lassen! Geh’ nur flink und ruf’ den Vater, daß wir mahlzeiten miteinander!“

Ruedlieb eilte zur Thür, doch vor der Schwelle blieb er stehen, blickte in lachender Freude auf sein Weib zurück und hatte sein helles Wohlgefallen an dem ernsten Eifer, mit welchem Edelrot beim Feuer schaltete. Draußen vor der Thüre saß der Richtmann auf einem Steinblock. Vor Stunden schon hatte er die Hütte verlassen, denn er wollte das stille Glück seiner Kinder nicht durch den Anblick der Sorge verkümmern, die aus seinen bleichen vergrämten Zügen redete. Er hatte die ganze Nacht hindurch kein Auge geschlossen und nur immer dem Murren der Lawinen gelauscht und dem Gepolter der Steine, welche von den Wänden niedergingen und ihren Weg an der Hütte vorübernahmen. Auch sonst noch hatte er in der unheimlichen Nacht gar seltsame Geräusche und Stimmen vernommen, die er nicht zu deuten wußte und die ihn mit banger Angst erfüllten.

Nun saß er schon seit Stunden einsam vor der Hütte und spähte mit forschenden Blicken empor zum steilen Gipfel des König Eismann. Da klang von der Hüttenthür die Stimme Ruedliebs: „Komm, Vater! Das Rötli hat uns aufgekocht, wir wollen gute Mahlzeit halten!“

Schwer seufzend wandte der Schönauer das bleiche Gesicht und winkte den Sohn herbei. Als Ruedlieb kam, faßte ihn der Vater bei der Hand und flüsterte. „Ich hab’ vor der lieben Dirn’ nicht reden mögen, aber jetzt hör’ mich an, Liebli: wir müssen fort auf die Nacht! Mir grauset! Der Berg ist nimmer sicher!“

Ruedlieb erschrak. „Meinst, Herr Waze hätt’ erfahren ...?“

Der Richtmann schüttelte den Kopf. „Ich fürcht’ den Berg.“

„Die Stein’ und Lahnen?“ Ruedlieb lächelte schon wieder. „So schau’ doch auf! Es ist ja wieder sonnscheinige Zeit, und der Schnee liegt still und fest.“

„Ich kenn’ die Berg’, Liebli, ich bin älter als Du. Aber ich mein’ schier, es müßt’ ’was kommen, was ich selber noch nie gesehen hab’. Alles ist lebendig in der Rund’, und zur Nachtzeit hab’ ich die Steinalfen schreien hören wie in Schmerz und Not. Mir grauset, Bub’! Der Bidem steckt im Berg wie die Scheermaus unter dem Traidfeld. Wir haben wohl gute Ruh’ vor Wazemanns Leut’ ... aber ich mein’ schier, der Berg möcht’ Fäust’ kriegen und schlagen nach uns. Wir müssen fort zur Nacht! Sag’s der lieben Dirn’ ... sie hört’s von Dir leichter. Die Nacht ist lang und reicht wohl aus, daß wir durch die Ramsau flüchten und das Haller Thal gewinnen.“

Aus der Hütte klang Rötlis helle Stimme: „Aber so kommt doch!“ Mit einem Sprunge war Ruedlieb bei der Thüre. Als der Richtmann ihm folgen wollte, hörte er von der Höhe des weißen Grates einen Laut. Betroffen lauschte er. War es eine menschliche Stimme gewesen? Oder der winselnde Laut eines Hundes? „Ich muß es wissen!“ murmelte er, von banger Ahnung erfüllt. Mit der einen Hand fühlte er, ob er das Messer am Gürtel trüge, mit der anderen faßte er einen der schweren Latschenäste, die vor der Hütte lagen, und eilte gegen den Hang.

„Vater! So komm doch!“ mahnte in der Hütte die Stimme Ruedliebs.

„Ich komm’ gleich! Esset nur derweil’! Mir schmeckt der Brei so lieber, wenn er verkühlet hat.“ Die Worte des Richtmanns klangen rauh und heiser. Er atmete schwer, und mit irrem Blick wandte er noch einmal die Augen nach der Hütte. „Liebli ...“ Wie ein Seufzer glitt ihm der Name seines Buben von den Lippen. Dann richtete er sich auf, seine bleichen Züge verschärften sich, mit funkelnden Augen spähte er nach der Höhe und begann durch den klebrigen Schnee emporzuwaten. Als er nach schwerer Mühe den Grat erreichte, stand er vor Entsetzen wie versteinert. Auf blutgetränktem Schnee, mit zerschmettertem Hinterkopf, lag eine Leiche vor ihm, deren starre Totenhand noch den Eibenbogen umklammert hielt: Otloh, Wazemanns Jüngster. Ein stürzender Fels, dessen Weg eine tiefe Furche im Schnee bezeichnete, war über ihn hinweggegangen. Mit verstörtem Blick hing der Richtmann an dem blutigen Bild; er faßte nicht, was er sah, und griff sich an die Stirne. Da hörte er vom jenseitigen Hang herauf die Stimmen der Wazemannsleute und das Gewinsel der Hunde, einen Schritt noch that er – dann sah er sie kommen. Auf die Weite eines Pfeilwurfs waren sie unter ihm. Sie hatten ihn schon erblickt und auch erkannt – das verriet ihm ihr Geschrei und der Pfeilschaft, welcher nahe vor seinen Füßen im Schnee versank. Einen Augenblick stand er ratlos, mit verzerrtem Gesicht und zitternd an allen Gliedern. Dann jählings faßte er die Leiche, schleifte sie über den Grat hinaus und gab ihr einen Stoß, daß sie über den steilen Hang hinunter und den Emporsteigenden entgegenrollte, von Schnee überwirbelt, umprasselt von nachstürzendem Geröll.

„Berget Eueren Toten ... ich wahr’ die Meinen, so lang sie noch leben!“ Er sprang über den Grat zurück, und das Messer aus der Scheide reißend, stand er und schickte einen gellenden Notschrei hinunter in das stille Bergthal. Der hallende Ruf weckte das Echo an allen Wänden. Es rieselte der Schnee, Steine rollten, und überall in den Felsen schrie es, als wären zwanzig Stimmen mit einmal lebendig geworden in der Oede.

Ruedlieb und Edelrot kamen aus der Hütte gesprungen. Von der Höhe des Grates sahen sie den Vater herabeilen und wußten nicht, was sie denken sollten.

Da schrillte von der Höhe der Ruf des Richtmanns. „Laufet! Laufet! Hinter mir die Wazemannsleut’!“

Rötli erblaßte und ihre Knie wankten; auch aus Ruedliebs Wangen jagte der jähe Schreck alles Blut, doch seine Hand griff nach dem Messer. Gestalten tauchten über den Grat empor. Herr Waze, Henning, Rimiger und Sindel, und hinter ihnen die Knechte mit den Hunden. Zitternd klammerte sich Edelrot an Ruedliebs Brust und barg an seiner Schulter das von Angst und Entsetzen verstörte Gesicht. „Der Unfirm ... und seine Hund’ ...“

„Laß ihn kommen!“ Ruedlieb richtete sich auf. „Solang’ ich noch Arm’ hab’, soll Dir nimmer geschehen, wie dem Rösli geschehen ist, aus deren Blut die Albenros’ gewachsen. Leben sollst Du ... oder ich sterb’ mit Dir!“ Ein paar Schritte riß er die Wankende durch den Schnee mit sich fort, dann wieder stand er und rief mit tonloser Stimme: „Vater! Komm!“

Der Richtmann hörte wohl den Ruf seines Buben, ein Schwanken ging über alle seine Glieder, dann blieb er plötzlich stehen, in der Linken den Latschenast, in der Rechten das blanke Messer zum Wurf bereit, die brennenden Augen nach der Höhe gerichtet. Den Söhnen und Knechten voran überklomm Herr Waze den verschneiten Grat. Sein Gewand und seine Hände waren rot vom Blute Otlohs, dessen rollende Leiche er aufgefangen. Er hatte den Hut verloren, und seine dünnen Haarsträhne klebten an dem schweißtriefenden Gesicht, dessen Züge verzerrt waren, daß sie nicht mehr dem Abbild eines Menschen glichen, sondern der Fratze eines verwundeten Raubtiers, das sich zum Sprunge duckt. Heiser kreischte seine Stimme: „Dort steht er, dort, der mir den Sohn erschlagen! Faßt ihn! Ich will ihn haben! Lebendig!“

Rimiger und Sindel sprangen über den Schneehang nieder und auf den Richtmann zu. Henning aber hob den Bogen und spannte die Sehne. Da flog das Messer des Richtmanns, und mit lautem Wehschrei ließ Henning die Waffe sinken – das Messer hatte seinen Arm durchbohrt.

„Die Hund’ von den Riemen!“ schrie Herr Waze in schäumender Wut. „Die Hund’ über ihn!“

Die Knechte lösten die Fesseln, und gleich einem Bündel abgeschnellter Pfeile schossen die heulenden Rüden thalwärts.

Da rann unter dumpfem Knirschen ein Zittern durch den Felsgrund, das verschneite Steinfeld hob sich langsam wie die Brust eines atmenden Riesen, ringsumher aus dem weiten Berghang stäubten kleine Schneewolken auf, und durch die Lüfte ging ein Murren – wie fernes Echo klang es und dennoch wie ein naher Laut, dicht vor den Ohren der Lauschenden.

Herr Waze auf dem Grat, Rimiger und Sindel, Henning mit dem blutenden Arm, die beiden Knechte, die verstummten Hunde und der Richtmann, der sich schon wieder zur Flucht gewendet hatte ... sie alle standen jählings wie versteinert, wie angewachsen auf der Scholle, welche sie trug. Hinter dem Grat hatte Eilbert, der die Leiche Otlohs in den Armen gehalten, den blutigen Körper fallen lassen, und die beiden Brüder, welche vor dem Erschlagenen auf den Knien im Schnee gelegen, waren aufgesprungen mit schreckensbleichen Gesichtern. Irrenden Blickes starrten sie umher – sie alle fühlten die Nähe einer dunklen grauenhaften Gefahr. Von welcher Seite aber drohte sie? In den Lüften oder im Grund der Felsen? In der Höhe oder im Thal? Diese Ungewißheit mehrte noch das Bangen und Entsetzen. Von Hennings Lippen löste sich der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 460. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_460.jpg&oldid=- (Version vom 10.3.2021)