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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

erscholl, halb erstickt von dem die Lüfte erfüllenden Toben. Keiner dachte des anderen, jeder nur an das eigene Leben. Der Bruder kannte nicht mehr den Bruder, der Sohn den Vater nicht, und für die Knechte gab es keinen Herrn. Wer zu Boden lag, griff mit zuckenden Händen nach jedem Fliehenden, dessen Weg an ihm vorüberführte – und wer eine klammerude Hand an seinem Leibe fühlte, stieß mit den Füßen, riß und zerrte, bis er sich frei gemacht.

Immer dichter fielen die Steine, und die Stimmen der Lüfte und der brechenden Felsen verschmolzen sich zu schwebendem Gedröhn.

Allen Fliehenden voran war der Richtmann schon der Hütte nahegekommen, als eine springende Steinscholle seinen Schenkel traf. Stöhnend brach er zu Boden, wollte sich wieder aufraffen, doch die zerschmetterten Knochen versagten den Dienst. Er wußte, daß er verloren war – und wie nach einem bösen Sturmtag unter dem fernen Gewölk einher noch eine letzte schöne Röte der sinkenden Sonne schimmert, so sah der Sterbende vor seinen Augen als leuchtendes Bild, was seinem Leben teuer gewesen. „Liebli, mein guter Bub’! Mein Haus und Herd!“ Er schluchzte laut und bedeckte mit zitternden Händen das Gesicht.

Da tönte aus dem jammernden Geschrei, das auf dem halb schon überschütteten Hang sich noch vernehmen ließ, eine keuchende Stimme an des Richtmanns Ohr. „Der Heilige ... der Heilige hinter mir ... und sie lassen mich allein ... die Söhn’ den Vater ... die verfluchte Brut ...“ Ein Wehlaut unterbrach die röchelnden Worte. „Helfet! Helfet! Her zu Eurem Herrn, Ihr ungetreuen Knecht’!“ Mit heiserem Schrei erlosch die Stimme, und durch den Schleier des wirbelnden Staubes, durch den Hagel der Steine sah der Richtmann einen Klumpen Leben sich nähern, ein Lächeln des befriedigten Hasses überzuckte sein fahles Antlitz, er hob sich auf das unverletzte Knie und faßte die schwere Scholle, die ihn getroffen.

„Helfet, Helfet!“ klang es wieder in winselnder Angst. „Du gütiger Himmelsherr, so schau’ doch nieder auf meine Reu’ und hab’ Erbarmen! Ihr guten Heiligen, nehmet alles, was ich hab’, den ganzen Gadem, mein Roß und meinen Weißfalk ... höret, Ihr Heiligen, ich gelob’s ... ich laß’ Euer Kloster bauen aus festem Stein ... nur helfet, helfet ...“ Der Jammernde stürzte, rollte vor des Richtmanns Füße und versuchte sich wieder aufzurichten; die Kotze des Bauern geriet ihm unter die tappenden Hände, er klammerte sich an, zerrte sich in die Höhe und kreischte: „Helfet ... helfet ... ich zahl’ mit Gold und Spangen ...“

„Ich thu’s umsonst!“ klang mit heiserem Gelächter die Antwort, und die Faust des Richtmanns mit der schweren Scholle fiel. Ein gurgelnder Laut, ein starrer Blick noch in das Gesicht des Bauern, und Herr Waze überschlug sich auf dem steilen Hang, das zerschmetterte Haupt von Blut überronnen ...

Mit Getöse stürzten die dichten Massen des niederfahrenden Gesteins über den Grat einher, und eine mächtige Staubwolke, dem Sturz der Felsen vorangleitend, verhüllte den Todeskampf der wenigen, die noch lebten. Schon sausten die ersten Blöcke gegen die Hütte im Thal und brachen die morschen Balken. Springende Steine fuhren über das Schneefeld hin und flogen vorüber an dem flüchtenden Paar, das mit letzter Kraft durch den angewehten Schnee sich weiterkämpfte. Von blindem Grauen befallen, hatte Ruedlieb die Geliebte mit sich fortgerissen, des Weges nicht achtend, den er nahm. Nun stand er zitternd und starrte über die steile Felswand, welche sich niedersenkte zum Windacher See; sein irrender Blick sah in der Tiefe das weite Wasser, am Ufer zwei rennende Menschen und Pferde in rasender Flucht. Vor ihm der Abgrund, hinter ihm der stürzende Tod, der ihm den Vater schon genommen – da gab es nimmer Weg noch Rettung! Wohl versuchte er noch die Flucht am Rande der Felsen hin, doch Rötlis Kräfte waren zu Ende, und lautlos sank sie an Ruedliebs Seite in den Schnee. Schluchzend griff er nach ihr, riß sie empor an seine Brust und hielt die Taumelnde umschlungen. „Jetzt holt der Bid, was ihm verfallen ist!“ Er drückte die Lippen auf Rötlis Haar und schloß die Augen, den Tod erwartend, der unter Donner und Tosen auf springenden Felsen geritten kam. Wie ein grauenvolles Ungetüm schoß die den Sturz verhüllende Wolke über den Hang hernieder; aus ihrem Dunkel wurden mächtige Blöcke hervorgewirbelt wie Asche aus einem Schlot und ihr voran, gleich dem Brausen eines gewaltigen Sturmes, jagte die vom Sturz der Felsen angestaute Luft. Der sausende Windstrom faßte das Dach der halb zertrümmerten Hütte und wehte die Balken davon wie leichte Schindeln, die im Schnee versunkenen Latschenbüsche blies er von der Erde weg, und als er die beiden Menschen erreichte, die sich zitternd umschlungen hielten, ergriff er sie und trug sie wie auf unsichtbaren Händen in weitem Fluge über den Abgrund hinaus, daß ihnen Atem und Bewußtsein schwand ...

Unter dem donnernden Widerhall, welcher rings im weiten Thal über alle Wände rollte, stürzten die Massen der gebrochenen und zu Geröll zerschmetterten Felsen in den Windacher See, dessen aufgewühlte Fluten haushoch über die Ufer schwankten. Mit dröhnendem Klang zerbarst die Felswand über den Schluchten der Windach, und der aus seiner tausendjährigen Haft befreite See ergoß sich mit tosendem Rauschen über das Thal.

Eberwein und Eigel, welche dem Ausfluß der Windach nahe waren, sahen die Felswand auseinanderfallen und das Wasser kommen. Mit bleichen Gesichtern standen sie und gedachten erst der eigenen Rettung, als die niederbrausenden Fluten schon die Schlucht der Windach in ihrer ganzen Breite füllten und brüllend näherschossen. „Wahr’ Dich, Herr!“ stammelte Eigel, faßte den Arm des Mönches und riß ihn gegen den Berghang. Keuchend klommen sie zwischen den Bäumen empor, um dem Weg der fallenden Gewässer zu entrinnen. Schon hatten sie gesicherten Grund erreicht – da wich unter einem Tritt des Kohlmanns die Moosdecke, er stürzte und kam auf dem vom Regen durchweichten Hang ins Gleiten.

„Barmherziger Gott!“ schrie Eberwein und sprang, der eigenen Gefahr nicht achtend, auf den Stürzenden zu. Doch es brausten schon die Fluten heran, und eine über den Hang emporspülende Welle erfaßte den Greis und schleuderte ihn an einen Baum. Lautlos kollerte Eigel über das Netz der Wurzeln, aber ehe das schießende Wasser ihn verschlingen konnte, hielt ihn Eberwein schon umkiammert mit beiden Armen, von einer springenden Welle übergossen, gewann er mit seiner Last den sicheren Grund und bettete das Haupt des Kohlmanns in seinem Schoß. Da sah er, daß von Eigels Schläfe das Blut in dicken Tropfen durch die grauen Haare sickerte ... es war ein Sterbender, den er gerettet.

Kaum eines Wortes mächtig, beugte sich Eberwein über den Kohlmann und nestelte am Hals aus seiner Kntte eine Schnur hervor, an welcher ein Kreuzlein hing. Er wollte das heilige Zeichen dem Sterbenden zum Kusse bieten. „Der Gott der Liebe wird Dir gnädig sein ... blick’ auf zu ihm!“ Da lief ein Zittern über die Glieder des Greises, seine Augen wurden starr, er kämpfte, als wollte er sich erheben, als möchte er sprechen, und faßte mit gierigem Griff – nicht das Kreuz – sondern die seltsame Reliquie, welche mit dem heiligen Zeichen an die gleiche Schnur gebunden war: die Hälfte eines entzweigesprungenen Beinreifs, braun vor Alter, mit halb verwischten Runenzeichen. „Salmued!“ Dieses eine Wort nur rang sich von den Lippen des Sterbenden, und das Brausen der thalwärts stürzenden Gewässer verschlang den zitternden Laut. Eigels knöcherne Finger, die den Reif umklammert hielten, zuckten wie im Krampf, und seine Glieder streckten sich. Ein umflorter Blick noch suchte die Augen des Mönches, und flüsternd hauchte der erbleichende Mund: „Die gute Zeit ...“

Eberwein verstand den letzten Seufzer dieses erlöschenden Lebens nicht. Er sah die Augen des Greises brechen, drückte mit zitternden Armen den Erlösten an sich und küßte die kalte Stirne. Er wollte beten, doch die Worte versagten ihm. Tosend rauschten zu seinen Füßen in endlos wachsendem Schwall die entfesselten Fluten vorüber, den Wald und die Felsen brechend, die Zerstörung niederwälzend auf bewohnte Stätten. Vor seinen irrenden Blicken erschien das weite Thal der Ramsau, er sah die einsame Kirche und das verödete Pfarrhaus, die stillen Hütten rings umher und ihre Menschen. Er sah im Geiste schon die Dächer stürzen und hörte das Angstgeschrei der bedrohten Geschöpfe. Zitterndes Grauen befiel ihn, und aus seinem gemarterten Herzen rang sich der bange Aufschrei. „Gott der Liebe! Wo bist Du?“

Nur der Donner über den Bergen, nur das Rauschen und Toben der stürzenden Fluten gab die Antwort ...

Wie von den bleichen Lippen des Mönches, so flog in dieser Stunde der Vernichtung auch aus der Seele eines anderen in Zweifel und Jammer ein Gebet zum Himmel auf. Hinter dem König Eismann, in der schwarzen Finsternis der verschütteten Höhle, taumelte Sigenot zwischen den erzitternden Felsen umher und schrie. „Du Starker, Du! Ich hab’ gehalten zu Dir! Jetzt halt’ zu mir! Jetzt thu’ mir den Weg auf! Laß mich zu ihr!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 463. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_463.jpg&oldid=- (Version vom 10.3.2021)