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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Seine Augen glänzten; er atmete tief auf.

„Wollen wir Wölfe jagen, Herr Lieutenant? Kommen Sie mit, heute nacht geht der Schnellzug nach Petersburg.“

Hermann lachte laut auf. „Ich danke sehr, ich bin keine russische Durchlaucht.“ Dieser Mensch, der seinem Willen nie eine Schranke zu ziehen brauchte, belustigte ihn.

„Schade, sehr schade!“ Prinz Sissi machte wieder sein altes Gesicht. „Dann gehe ich auch nicht fort. Apropos, können Sie mir hier in Berlin einen Gasthof empfehlen?“

Alle sahen sich erstaunt an.

„Wo sind Sie denn bis jetzt gewesen, Prinz?“ fragte Lore.

„Ich komme geradeswegs vom Bahnhof.“ Er lachte heiter. „Das heißt, zuerst fuhr ich nach dem Auswärtigen Amt, um Ihre Adresse zu erfahren.“

„Und Ihr Wagen, Ihr Gepäck?“

Er deutete mit dem Daumen über die Schulter nach dem Fenster und lachte in sich hinein. „Alles noch draußen! Wartet auf mich.“

„Den Wagen lassen Sie stundenlang in der eisigen Kälte warten?“ Lore nahm einen Ton an, wie man ein ungezogenes Kind schilt.

„O, der Kutscher sitzt ganz warm in seinem Pelz! Doch nein! Sie erlauben?“

Rasch schenkte er aus einer Rumflasche neben dem Theeservice ein Weinglas voll und eilte damit zur Thür hinaus.

„Er ist ein steuerloser, aber guter Mensch,“ meinte Lore, ein wenig unsicher zu Hermann und Edda hinüberblickend. Als die beiden schwiegen, fragte sie etwas nervös: „Nun, was sagt Ihr dazu?“

„Man merkt, daß er einem asiatischen Stamm entsprossen ist.“

„Eine psychologische Studie,“ fiel Edda mit ihrer tiefen Stimme ein.

„Leider richtig, Ihr beiden Weltweisen! Aber ich werde – ah, da ist er schon wieder!“

Mit einem Riesenstrauß von Marschall Nielrosen in der Hand, schmelzenden Schnee auf den Spitzen seiner Lackstiefel, erschien der Russe wieder.

„Wie der Kutscher lachte über das ganze Gesicht! Seine Nase leuchtete im Gaslicht wie ein Feuerwerk.“

Ohne weitere Erklärung legte er die Blumen in Lores Hand.

„Mein Gott, diese Pracht! Haben Sie die herrlichen Blumen aus Paris mitgebracht? Aber Prinz, Sie fallen wieder in Ihren alten Fehler, obgleich ich Ihnen die Blumenspenden verboten habe. Geben Sie das Geld lieber den Armen.“

„Thue ich auch! Aber dies ist ein Gelegenheitskauf. Unter den Linden sah ich den Strauß in einem Ladenfenster,“ log er munter. „Was macht man hier in Berlin des Abends? Womit vertreibt sich ein Junggeselle die Zeit?“ suchte er dann das Gespräch abzulenken, um Lores forschenden Fragen auszuweichen.

Hermann gab ihm einige Ratschläge. „Wo Bruno nur bleibt?“ fuhr er dann fort und sah nach der Uhr.

Lore zuckte die Achseln. „Er wird irgendwo gute Freunde gefunden haben.“

„Ja, Ihr Herr Gemahl ist eben ein so charmanter Mensch, ein so vorzüglicher Gesellschafter – ich kenne das aus Paris: man läßt ihn nie fort,“ meinte der Russe. – –

Es war elf Uhr vorüber, als die Drei endlich aufbrachen.

„Darf ich Ihnen meinen Wagen anbieten, Fräuleiu Helm?“

Sie nahm ohne weiteres das Anerbieten des Prinzen an und setzte sich zu den beiden Herren in den Wagen. Jede Art anerzogener kindischer Zimperlichkeit war ihr fremd. Sie wohnte im Mittelpunkt der Stadt, im ältesten Teile Berlins. Als sie dort ausgestiegen war, fahren Hermann und der Prinz die Linden hinab. Dieser hatte den Wagen öffnen lassen trotz der Kälte und saß mit offenem Rock und strahlenden Augen neben seinem Begleiter, neugierig sich das Nachtleben der ihm nur flüchtig bekannten Stadt anschauend.

„O, ganz hübsch, dieses neue Berlin!“ meinte er, Hermann eine Cigarette anbietend.

„Hier sind wir an dem bezeichneten Gasthof, Durchlaucht!“

Rasch sprang der Prinz aus dem Wagen.

„Bitte, Herr Lieutenant – ich will nur ein Zimmer nehmen und mein Gepäck hinauftragen lassen – essen Sie irgendwo mit mir zur Nacht? Ich kann nicht vor ein Uhr schlafen.“

Hermann würde weit lieber in seine Wohnung gegangen sein, doch schien es ihm ungezogen, die Bitte des Fremden abzuschlagen.

„Gut, dann fahren wir zusammen.“

Nach wenigen Minuten war der Russe wieder zurück. „Wohin wollen Sie mich führen? Ist es weit?“

„Nein, nur wenige Minuten.“

Hermann gab dem Kutscher die Adresse an, Prinz Sissi nickte zustimmend mit dem Kopfe und blickte eine Weile sinnend an dem breiten Rücken des Kutschers vorbei. Dann seine schlanke Hand auf Hermanns Arm legend, begann er plötzlich: „Sehen Sie, jetzt bin ich glücklich! Jetzt geht mir wieder das Blut ganz vernünftig durch die Adern, lustig, fröhlich, seitdem ich weiß, daß ich Ihre Schwägerin jeden Augenblick sehen kann. Herrgott, die letzte Zeit in Paris war abscheulich! Ach, Ihre Schwägerin! Sie ist so schön, so madonnenhaft! Und so freundlich mit mir!“ sagte Prinz Sissi leise vor sich hin.

Hermann hatte es gehört. Auf seinem Gesicht war nur Mißmut und ein gewisser Aerger über diesen tollen Gecken zu lesen. Der Russe betrachtete seinen Begleiter aufmerksam, plötzlich fiel er in einen ganz andern Ton, und mit einer Stimme, so weich wie die eines Mädchens, dem Offizier die Hand auf das Knie legend, fuhr er fort: „Sie haben Ihre Schwägerin sehr lieb?“

„Wozu – was soll das? Gewiß, wie eine Schwester.“

Das letzte Wort sprach er mit einem gewissen Nachdruck aus.

„Sie sind hart gegen mich, wenn Sie das Verhältnis zwischen der Baronin und mir ansehen – nun, wie soll ich sagen – wie eine Pariser schlechte Angewohnheit, vielleicht noch als etwas Schlimmeres.“

„Dann würde ich nicht hier neben Ihnen sitzen.“

Die Durchlaucht biß sich auf die Lippen. „Sie sollen mich verstehen lernen, wenn unsere Bekanntschaft auch erst heute geschlossen wurde. Ich kenne Sie aus Erzählungen Ihrer Schwägerin seit langer Zeit sehr gut und will Ihnen meine Geschichte erzählen. Doch wir sind anscheinend am Ziel. Gut! Können wir ein besonderes Zimmer erhalten? Ich möchte ungestört mit Ihnen sein.“

Das Restaurant war ziemlich besucht, doch gelang es den Ankommenden, noch ein stilles Plätzchen zu finden.

Château la Rose?“ fragte Prinz Sissi mit einer Verbeugung gegen Hermann. „Sie erlauben!“ Langsam goß er die beiden Gläser voll, warf sich in den Sessel zurück, schlürfte bedächtig mit Kennermiene den schweren Wein und ließ die blauen Rauchwolken einer Cigarette langsam emporsteigen. Die Augen halb geschlossen, als blickten sie weit, weit in die Ferne, begann er: „Ihre Schwägerin sagte, ich hätte wieder in meine Steppe gehen sollen. Ja, da bin ich aufgewachsen, in der Steppe, dort unten, wo die Wolga ihre trüben Fluten so gemütlich melancholisch zum Meer hinabrollen läßt. Meinen Vater habe ich nie gekannt. Seit Jahrhunderten sterben die Männer unserer Familie am Herzschlag, plötzlich, unvermittelt, ohne vorhergehende Krankheit. So auch er. Wie das zugeht? Nun, der Wahrheit die Ehre – es klingt abscheulich, aber es soll noch keiner meiner Vorfahren je in nüchternem Zustande dahingerafft worden sein. Es ist wie ein Verhängnis, wie ein Fluch in unserem Blut. Ich selbst kenne das an mir. Ich habe Zeiten, wo ich dagegen kämpfen muß mit aller Kraft und doch unterliege. Auf andere Menschen wirkt der Genuß von Alkohol in anderer Weise als auf mich – ich sehe Leute lustig, traurig, schläfrig werden. Von alledem spüre ich nichts; ich glaube mich ganz normal zu fühlen, bleibe im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte, nur daß diese viel gesammelter wirken. Das Blut tobt mir wie mit Hammerschlägen durch die Adern, meine Phantasie arbeitet in einem raseden Tempo, ich bin imstande, in einer Sekunde mehr zu denken als sonst in Stunden. Doch kurz und gut – mein Vater starb zehn Tage nach meiner Geburt und meine Mutter folgte ihm bald nach. Die alte Maruschka, meine Amme, und ein Onkel, ein entfernter Verwandter meiner Mutter, haben mich erzogen, das heißt, der letztere hat mich verzogen, wenn er betrunken war, und geschlagen, wenn ihm am andern Tage der Kopf brummte. Im übrigen wuchs ich auf wie das Unkraut hinter den Lehmhütten unserer Bauern. Im Alter von acht Jahren bekam ich eine Erzieherin, ein deutsches Mädchen, das nach einiger Zeit durch die Liebeserklärungen meines Onkels vertrieben wurde, der sich von unserem Kutscher nur dadurch unterschied, daß er noch mehr Branntwein trank als dieser.

Diese deutsche Erzieherin stellt den einzigen weiblichen Einfluß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 487. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_487.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2023)