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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

mußte sie Eberwein an den Richtmann erinnern. Nun gehorchten sie und stiegen mit ihm zu Berge. Sie fanden nur die gebrochenen Felsen, keine Spur des Lebens mehr, das unter ihnen begraben lag. Ein einziges Balkenstück der verschwundenen Oedhütte entdeckten sie: die abgetretene Thürschwelle. Sie gab der öden Trümmerstätte für kommende Zeiten ihren Namen: „Trischibl“.[1]

Bei sinkendem Abend kam Sigenot mit seiner Schar durch die verschüttete Schlucht vom Schönsee emporgestiegen und traf mit dem anderen Häuflein zusammen. Mit fragendem Blick sah ihm Eberwein entgegen. Sigenot schüttelte den Kopf und wandte sich ab.

Ehe sie die Heimkehr begannen, standen sie lange und blickten nieder über den stundenweiten Grund des verschwundenen Windachersees und maßen mit staunenden Augen die Höhe der Felswand, über welche der „Starke im grauen Mantel“ den Ruedlieb und das Rötli gefahrlos niedergetragen hatte in die sichere Tiefe. Als die Männer anfingen, das Wunder in lauten Worten zu preisen, ging Eberwein mit raschen Schritten dem Abstieg zu.

In später Nacht erreichte er mit Sigenot das Thal der Ramsau. Die Männer waren auf dem Grnnd des ausgeronnenen Sees zurückgeblieben und sammelten auf Eberweins Geheiß bei Fackelschein die Fische, von denen alle stehenden Lachen wimmelten. Das gab für die Bedürftigen reichliche Nahrung auf Tage und Wochen.

Am folgenden Morgen waren alle Pfade belebt, die aus der Ramsau, aus dem Gadem und von den Gehöften der Hochbauern zum Lokiwald führten. Doch kein Ruf wurde laut, auch kein Gespräch begonnen, wenn zwei oder mehrere auf gleichem Weg zusammentrafen. Still und in sich versunken schritt ein jeder dem Ziel entgegen. Als der erste Sonnenschein über die Rodung fiel, herrschte noch tiefes Schweigen rings um die Klause. Müden Ganges schritten die Greise auf und nieder, welche die Leichenwache gehalten und in den Nächten lodernde Feuer geschürt hatten, um die Wölfe zu verscheuchen. Zuweilen blieben sie stehen, die Hände auf dem Rücken, und blickten in eine der drei mächtigen Gruben nieder, in deren Tiefe auf einem Rost von Balken die stillen Schläfer lagen, einer neben dem anderen, weit über hundert an der Zahl, fast der vierte Teil aller Lebenden, die den Morgen des Unglückstages gesehen hatten. Im größten der Gräber, das die Männer barg, ruhte Waldram inmitten der anderen, der Bekenner neben dem Zweifler, der Hörige neben dem Freien, die Bauern in der blutbefleckten Kotze neben den Wazemannsknechten im gelben Wams – sie alle waren Brüder im Tod geworden und vertrugen sich gut miteinander. Im Grabe der Weiber lag auch die alte Ulla. Ein Stein hatte den Nacken der Magd getroffen. Sie war nicht schnell genug gelaufen, um dem „Fluch der Salmued“ zu entrinnen.

Vom gebrochenen Wald her klangen Beilschläge, und die ersten Leute kamen: ein Bauer, der auf den Armen ein blondlockiges Dirnlein trug, welches den Vater in Angst umschlungen hielt, als könnt’ es auch ihn noch verlieren wie die Mutter; der Köppelecker mit seiner Bäuerin; Ruedlieb und Rötli, Hand in Hand, mit ihnen die beiden Mägde, der einzige Knecht, der ihnen geblieben war, und Sigenots Altsenn. Der alte Gobel, dem der Urstaller eine Kotze geliehen, brachte auf einer Kraxe den lahmen Buben getragen. Weiber kamen, an der einen Hand das eigene Kind, an der anderen ein fremdes und verwaistes führend. Immer zahlreicher traten die Kommenden von allen Seiten aus dem zerstörten Wald hervor, und der Ring der Menschen, über dreihundert an der Zahl, drängte sich um die Gräber. Als alle schon versammelt schienen, kam noch ein letzter: der Greinwalder; er war allein und streifte mit scheuen Blicken die Klause.

Unter der Thüre des dachlosen Kirchleins erschienen zwei Mönche. Eberwein mit der weißen Stola über der schwarzen Kutte, und ein anderer, der auf seiner Schulter ein schweres Kreuz mit dem heiligen Bilde trug. Als die Leute den Kreuzträger erkannten, ging eine Bewegung durch die Schar der Menschen und leise weinend bedeckte Edelrot das bleiche Gesicht. Inmitten der Gräber erhöhte Bruder Sigenot das Kreuz, daß die blauen Augen des heiligen Bildes niederblickten auf die stillen Schläfer. Mit schwankender Stimme sprach Eberwein die kirchlichen Gebete. Keine Glocke tönte und kein Weihrauch dampfte bei dieser ernsten Feier. Das Grabgeläute besorgten die Berge, von deren Höhe in Zwischenräumen das Knattern fallender Steine klang, und gleich dem Rauch eines Totenopfers qualmte der Nebel aus den versumpften Gründen. Der leuchtende Morgenhimmel begann sich zu bewölken, als möchte auch er sich in Trauer hüllen. Doch über die weite Rodung fiel noch helle Sonne und umwebte mit warmem Schimmer die offenen Gräber und die in dumpfem Schweigen verharrende Schar der Lebenden. Eberwein ließ die erste Scholle in das Grab der Männer fallen, und die traurige Arbeit der Spaten begann. Sie währte lange, und hoch türmten sich über den geschlossenen Gräbern die Hügel der ersparten Erde.

Unter lautloser Stille, aus welcher sich nur zuweilen ein kurzes krampfhaftes Schluchzen hören ließ, trat Eberwein neben das Kreuz und begann zu sprechen. Die ernste Weihe des Augenblicks erfüllte sein Herz, und was ihm heiß und strömend aus tiefster Seele kam, floß über in die Gemüter dieser gebeugten Menschen, wie zärtlicher Trost, gereicht von den Händen eines treuen Freundes. Laut weinten sie alle, und in ihren Thränen löste sich der starre Schmerz. Von neuem erhob Eberwein die Stimme. Um sie ihren Klagen und Zähren zu entreißen, sandte er die Frauen und Kinder zum Wald: sie sollten Zweige von den Tannen brechen und mit dem Grün die schwarzen Hügel schmücken. Und den Männern rief er zu: „Tretet her zu mir! Wir wollen raiten miteinander um das Landwohl!“

Vor der Klause saß er auf einem Holzblock, Sigenot an seiner Seite, und im Halbring standen die Männer umher, mit entblößten Häuptern – die Zahl der „raitfähigen Leut’“ füllte nicht mehr das „Hundert“ wie in der Thingnacht auf dem Totenmann. Kein Feuer loderte, es wurde kein Bock geschlachtet, kein Hahn geköpft, und die Stimmen schrieen nicht wirr durcheinander. Eberwein erhob sich. „Gott ist mit uns! Nun redet Ihr Männer! Was meinet Ihr, daß geschehen soll?“

Schweigen folgte. Dann trat der Köppelecker vor. „Schau’, Herr, keiner weiß ein Wörtl, wir all’ sind ratlos; eins aber wissen wir: Du meinst es gut mit uns, Du hast den Kopf und das Herz auf dem rechten Fleck! Und hast einen starken Helfer! Red’ Du ... es soll geschehen, was Du willst.“

Da nickten sie alle, und ein Murmeln des Beifalls ging durch die Reihen. Helle Röte stieg in Eberweins bleiche Wangen und nach allem Weh und Jammer schimmerte die erste Freude in seinen Augen. Mit bewegter Stimme sprach er. Seine erste Sorge war es, den verwaisten Kindern ein Heim zu suchen. Und da waren der Väter mehr, welche Kinder haben wollten, als Kinder, die der Väter bedurften. Seine zweite Sorge war die Not der nächsten Tage. Sechs Greise bestellte er, um die Fische zu verteilen, und zehn junge Männer, welche in den Wäldern jagen sollten, um Fleisch zu schaffen. „Erleget, was Ihr gewinnen könnt’, doch schonet die Muttertiere und Kälber.“

Wie sollte bei jenen, denen alles genommen war, der Bedarf an Kleidung gedeckt und der neue Stall bevölkert werden? Wer konnte geben? Einer um den anderen trat aus der Reihe, und jeder nannte, was er über den Bedarf des eigenen Lebens noch besaß und missen konnte. Keiner empfand, daß er schenkte. Sie alle fühlten auf ihren Schultern die gemeinsame Not, und jeder sagte sich: gieb heute – so kannst Du hoffen, daß Dir andere geben, wenn an Dich die Reihe kommt, zu nehmen.

Die beiden nächsten Tage bestimmte Eberwein zur Ordnung dessen, was sie bisher beschlossen hatten. Am dritten Tag sollten sie alle ruhen und Kräfte sammeln. Dann wollten sie mit dem Bau der Hütten beginnen. Ein jeder, dessen Haus verschont geblieben, sollte im Wechsel immer einen Tag für sich und die Seinen schaffen und am folgenden Tag beim Bau der neuen Hütten helfen, daß man die Mauern unter Dach brächte, bevor der strenge Winter käme. Damit an Stelle der verschütteten Felder und Halden neues Fruchtland für das kommende Jahr gewonnen würde, sollten die gebrochenen Thalwälder in Gevierte geteilt und die liegenden Stämme verbrannt werden, um durch die Asche den Gehalt der neuen Erde zu bessern.

So wurde Frage um Frage geregelt, und für alle Not fand Eberwein Rat und Hilfe. Als er nach langen Stunden die Männer entließ, drängten sich alle um ihn her, und jeder suchte einen Druck seiner Hände zu erhaschen. Nur der Greinwalder schlich davon, als wäre ihm in der Nähe des Mönches nicht ganz geheuer. Langsam, unter leisen Gesprächen, schritten die Männer heimwärts nach allen Seiten. Wie aus der Asche einer Brandstatt der erste grüne Halm, so war in ihren Herzen ein Trost ersprossen: der Mut zu neuem Leben, die Hoffnung auf bessere Zeit.

  1. Driscûvel, altes Wort für Thürschwelle.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 498. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_498.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2021)